Text: Andreas Tunger-Zanetti, Studierende Universität Luzern
Bilder: pixabay
Rechtzeitig zur Volksabstimmung über ein nationales Verhüllungsverbot hat ein Forscher der Universität Luzern zusammen mit fünf Studentinnen ein Buch zum Thema veröffentlicht. Es beleuchtet sowohl die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz als auch die Debatte über ein Verbot und liefert Fakten für eine Debatte, die auch mit vielen Emotionen geführt wird.
Am 7. März 2021 steht zum ersten Mal ein Verhüllungsverbot auf der nationalen Abstimmungsagenda. Unter dem Namen «Burka-Verbot» ist allerdings bereits seit 15 Jahren ein Thema in Politik und
Medien. Noch bevor die Stimmbürgerinnen und
-bürger am 29. November 2009 über die Volksinitiative für ein Minarettverbot befanden, hatte der damalige CVP-Parteipräsident Christophe Darbellay im Nationalrat bereits den ersten von zwei
Vorstössen zum Thema «Burka» eingereicht. Vorstösse mit dem Ziel eines Verbots folgten sich im Jahresrhythmus, meist in Bundesbern, dreimal aber auch in Kantonen.
Die Recherchen für unsere Untersuchung haben für mich ein neues Licht auf die Thematik geworfen. So haben wir – anders als im Diskurs um ein schweizerisches Verhüllungsverbot – die Motive, Ansichten und Erfahrungen der Nikab-Trägerinnen miteinbezogen. Diese Perspektive zeigt zum einen, dass ein Gesichtsschleier nicht automatisch mit Unterdrückung zu tun haben muss, und zum anderen, dass in der Debatte, welche vordergründig den Gesichtsschleier als Gegenstand hat, eigentlich andere Problematiken, Konflikte und Interessen verhandelt werden.
Noémie Marchon, Mitautorin
Von der Lehrveranstaltung zum Buch
Die Verwunderung über diese Zählebigkeit eines Themas von so geringer alltagspraktischer Relevanz stand am Anfang einer Lehrveranstaltung an der Universität Luzern im vergangenen Frühjahrssemester: Wie kommt es, dass politische Akteure immer wieder eine bestimmte Form der Gesichtsverhüllung einiger weniger Frauen zum Thema machen?
Zunächst widmeten wir uns der Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz: Wie viele hier lebende Frauen tragen den muslimischen Gesichtsschleier? Und was ist ihre Motivation? Über die Anzahl kursierten bisher nur Mutmassungen, die von «rund hundert Frauen» sprachen. Wir fragten konkret bei zahlreichen Schlüsselpersonen, vorwiegend im muslimischen Feld, nach und kamen auf eine Spannbreite von 21 bis 37 Nikab-Trägerinnen; die afghanische Burka ist nicht anzutreffen.
Das Ausmass der politischen und medialen Debatte im Vergleich zur Anzahl der Schweizer Nikabträgerinnen hat mich schon erstaunt. Worum geht es in der Debatte, wenn das eigentlich ‹Problem› praktisch inexistent ist? Interessant fand ich auch zu sehen, wie stets versucht wird, das Thema ‹Religion› zu umschiffen, und gleichzeitig aber über nichts anderes als den Islam debattiert wird, obwohl ein Verbot sich nicht nur gegen Nikab-Trägerinnen richtet. Aus politischer und feministischer Sicht treibt mich vor allem die Frage an, ob es 2021 noch zeitgemäss ist, Kleidervorschriften (für Frauen) in die Schweizer Verfassung zu schreiben.
Cornelia Niggli, Mitautorin
Eine dieser Frauen konnten wir kontaktieren und nach ihren Motiven und Erfahrungen fragen. Das Ergebnis passte überraschend gut zu dem, was aus der Forschung in anderen westeuropäischen Ländern bekannt war: Es ist die Kombination einer speziellen, sehr persönlichen Frömmigkeit mit dem persönlichen Körperempfinden, das bei unserer Interviewpartnerin und ihresgleichen im Zentrum steht. Es sind meist hierzulande aufgewachsene Frauen mit solider Bildung, die eigenständig und aus Überzeugung diese Kleidungsform wählen – und sie oft auch nach einigen Jahren wieder aufgeben. Ehemänner oder Väter, die landläufig als Urheber dieser Kleidung vermutet werden, spielen anscheinend so gut wie nie eine Rolle oder versuchen im Gegenteil noch, ihre Frauen oder Töchter davon abzuhalten. Gefahr geht von Nikab-Trägerinnen nicht aus, vielmehr erfahren sie im öffentlichen Raum immer wieder Anfeindungen, Beschimpfungen und sogar tätliche Angriffe. Seit in der Öffentlichkeit Hygienemasken zum Alltag gehören, scheinen die Anfeindungen abgenommen zu haben.
Bereits die Tatsache, dass die Schweizer Bevölkerung über ein «Burka-Verbot» und nicht «Nikab-Verbot» debattiert, und auch der offizielle Initiativen-Name «Verhüllungsverbot» im öffentlichen Diskurs vergleichsweise wenig fällt, zeigt eine mangelnde Auseinandersetzung mit den Schweizer Nikab-Trägerinnen und der von ihnen ausgeübten Kleidungspraxis auf. Das Buch soll Anhaltspunkte schaffen, indem es einen ersten Überblick über die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz und die Debatte über ein Verbot gibt. Wer diskutiert? Welche Argumente werden von Befürwortern und Gegnern genannt? Wer sind die Schweizer Nikab-Trägerinnen und welche Motive stecken hinter ihrer Gesichtsverhüllung?
Asia Petrino, Mitautorin
Realität oftmals nicht abgebildet
Die Realität von Nikab-Trägerinnen ist also insgesamt banaler und weniger dramatisch, als in der Debatte immer wieder behauptet wird. Auch sonst fallen an der Debatte einige Dinge auf: So kamen etwa Nikab-Trägerinnen in der Debatte so gut wie nie zu Wort; die einzige Ausnahme bildete ausgerechnet die Aktivistin Nora Illi, die aber im März 2020 verstarb. Auch andere Musliminnen oder Muslime waren selten zu hören, abgesehen wiederum von der eifrigen und ebenso wenig repräsentativen Aktivistin Saïda Keller-Messahli. Häufig verwiesen Stimmen in der Debatte zudem auf jene Länder oder Kantone, die ein umfassendes oder bedingtes Verbot eingeführt haben, wie das Tessin und St. Gallen; kaum jemand erwähnt aber die Glarner Landsgemeinde, die am 7. Mai 2017 mit Zweidrittel-Mehrheit ein Verbot ablehnte. Auch die bereits erwähnten Erkenntnisse der Forschung aus anderen westeuropäischen Ländern fand keinen Eingang in die Debatte, und niemand fragte, wie sich Verhüllungsverbote in anderen Ländern ausgewirkt haben.
Solche und weitere Merkmale treten bei einer Diskursanalyse, wie wir sie in unserem Seminar durchführten, zutage. Vertieft analysierten wir dafür zwei Schwerpunktseiten aus Tageszeitungen sowie eine «Arena»-Sendung von Fernsehen SRF. Zusammengenommen entsteht das Bild einer Debatte, in der Befürworter wie Gegner eines Verbots zwar manche irrige Annahme teilen, im Grunde aber nicht über islamische Kleidung debattieren wollen, sondern über die kollektive und individuelle Identität und über grundlegende Perspektiven für die Gesellschaft, nicht zuletzt ihren Umgang mit der Diversität an Kulturen, Religionen und Kleidungsformen. Um sich emotional angesprochen zu fühlen, ist da für viele etwas dabei. Unser Buch versucht die Debatte mit Fakten und Beobachtungen zu bereichern.
Meine Familie ist sich grösstenteils in gesellschaftlichen und politischen Fragen einig. Wo unsere Ansichten jedoch auseinander driften ist im Rahmen der «Burka-Debatte». Für die Mehrheit meiner Familie ist die Vollverhüllung unverständlich, frauenfeindlich und unschweizerisch. Durch die vertiefte Auseinandersetzung mit der Vollverhüllung in der Schweiz wurde mir jedoch klar, dass diese Thematik um einiges komplexer und vielfältiger ist. Meiner Meinung nach wurde bzw. wird diese Komplexität im Schweizer Diskurs um die Vollverhüllung nicht erfasst bzw. werden unterschiedliche Perspektiven vermischt. Diese Vermischung führt dazu, dass viele Themen angeschnitten werden, jedoch keines konkret vertieft wird. Dazu gehören Themen wie Kleidervorschriften für Frauen, Föderalismus, Islamophobie, Terrorismus und irgendwann dann auch die vollverhüllten Frauen. Für mich ist die Arbeit an diesem Projekt die Möglichkeit, diese unterschiedlichen Themen zu erfassen und zu entwirren. Als Resultat dieser vertieften Auseinandersetzung fand ich neue und fundierte Argumente in familiären Diskussionen um diese Thematik.
Julia Meier, Mitautorin
Buchhinweis: Tunger-Zanetti, Andreas: Verhüllung – die Burka-Debatte in der Schweiz, unter Mitarbeit von Cornelia Niggli, Asia Petrino, Noémie Marchon, Julia Meier und Lea Wurmet, Zürich: Hier und Jetzt, Januar 2021, 160 Seiten, 5 Abbildungen, gebunden, ISBN: 978-3-03919-530-5, ca. Fr. 29.–. Verlagswebseite.
Mehr lesen: Interview mit Autor Andreas Tunger-Zanetti im Wissensmagazin Cogito der Universität Luzern - "Die Angst ist subjektiv"
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