Text: Pascal Zeder / Martin Zimmermann / Vera Bergen
Bilder: Priska Ketterer, zvg Marietta Ungerer/HSLU
Musik klingt nicht nur schön, sie hat auch verblüffende Effekte: Sie kann Schmerzen lindern und das Gedächtnis trainieren. Die Hochschule Luzern nutzt dies in zweifacher Weise. Einerseits hilft Musik beim Forschungsprojekt «Music, Movement, Mood & Parkinsons» bei der Symptomlinderung, andererseits unterstützen Musikgeragogen und Musikgeragoginnen, die an der HSLU ausgebildet werden, Menschen mit Demenz.
Schmunzelnd sagt Toni Scherrer, sein Handörgeli sei seine treueste Freundin, denn das Instrument begleitet ihn bereits seit 50 Jahren. Als vor vier Jahren beim 69-Jährigen aber die unheilbare Nervenkrankheit Parkinson diagnostiziert wurde, hätte er sein Handörgeli beinahe aufgeben müssen: «Ich zitterte manchmal so stark, dass ich das Instrument nicht mehr halten konnte». Kurz bevor er sich aber von seiner treuen Freundin hätte trennen müssen, stiess er auf ein Inserat der Hochschule Luzern HSLU, welche nach Probandinnen und Probanden für ein Forschungsprojekt suchte. Toni Scherrer meldete sich sofort für «Music, Movement, Mood & Parkinson`s» (MMMP) an.
Was ist Parkinson?
Über 15’000 Menschen in der Schweiz haben Parkinson. Weltweit sind es gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO rund 8.5 Millionen. Die Ursachen der Krankheit, bei der es zur fortschreitenden Schädigung von Nervenzellen im Gehirn kommt, sind unbekannt. Die Symptome umfassen Zittern und Muskelversteifungen, die zu Schwierigkeiten beim Gehen oder Stehen führen. Damit gehen oft psychische Beschwerden wie Apathie und Depression einher. Eine Heilung gibt es nicht, doch die Symptome können mit Medikamenten, Physiotherapien oder chirurgischen Eingriffen reduziert werden.
Ohne Risiken und Nebenwirkungen
Mit Musik gegen eine unheilbare Krankheit? «Das ist nicht so abwegig, wie es klingt», sagt Dawn Rose. Die Musikpsychologin leitet das HSLU-Forschungsprojekt MMMP. Parkinson greift unter anderem jene Hirnareale an, die für Bewegungen zuständig sind. Die Areale, die die Musik verarbeiten, sind laut Dawn Rose hingegen gerade im Frühstadium der Krankheit weniger betroffen.
Die beiden Hirnareale sind jedoch eng miteinander verknüpft. Musikhören stimuliert somit beide. Klinische Studien belegen: Bei Parkinson-Betroffenen führt diese Verknüpfung dazu, dass Krankheitssymptome wie Zittern, Gleichgewichtsstörungen und Motivationslosigkeit teilweise über Stunden hinweg abklingen. Für Rose ist Musik somit «das ideale Therapiemittel: Sie ist nicht-invasiv und sie hat keine Nebenwirkungen».
Dank Musik erleben Demenzerkrankte Freude
Dasselbe gilt auch für die Musikgeragogik (Geragogik = Alterspädagogik). Fachleute, die an der HSLU die Weiterbildung in Musikgeragogik besucht haben, singen und musizieren gemeinsam mit demenzbetroffenen Menschen. Das kann in einem Generationenprojekt sein, das von einer Musikschule angeboten wird, als Teil eines Musikgeragogik-Konzepts in einem Alters- und Pflegeheim oder als mobiles Musikangebot, das Altersinstitutionen, Gruppen oder auch Einzelpersonen buchen können.
Ursula Zihlmann hat sich an der HSLU zur Musikgeragogin weiterbilden lassen. Heute leitet sie unter anderem Kurse, in denen sie gemeinsam mit demenzerkrankten Menschen singt. «Da gibt es Teilnehmende, die können kaum sprechen, aber sie führen ganze Stücke auswendig auf», sagt sie. So habe sie erlebt, wie ein Teilnehmer eines ihrer Musikangebote unbedingt «es wott es Fraueli z’Märit go» singen wollte. «Bei ihm war die Demenz schon fortgeschritten. Doch dann spielten wir das Lied an und er trug Strophe um Strophe vor, er hörte gar nicht mehr auf».
CAS Musikgeragogik
Seit 2016 bietet die Hochschule Luzern den CAS (Certificate of Advanced Studies) Musikgeragogik an. Als bislang schweizweit einzigartiges, interdisziplinäres Kooperationsmodell zwischen den beiden Departementen Soziale Arbeit und Musik der Hochschule Luzern, richtet sich die Weiterbildung sowohl an Musikerinnen und Musiker als auch an Fachpersonen aus der Kulturarbeit mit älteren Menschen, aus Sozialer Arbeit, Altenhilfe und Pflege sowie Senioreneinrichtungen. Bis heute schlossen rund 60 Personen den CAS erfolgreich ab. Andrea Kumpe, Leiterin Weiterbildung am Departement Musik, baute die Weiterbildung gemeinsam mit Gabriela von Salis, Dozentin im CAS Musikgeragogik, Marc Brand (ehemaliger Dozent und Forschender am Departement Musik) sowie mit Simone Gretler Heusser und Gabriela Hangartner vom Departement Soziale Arbeit auf.
Es geht nicht um Heilung
Doch was bringt es eigentlich, wenn Menschen mit Demenz musizieren? Marc Brand, der den CAS Musikgeragogik an der HSLU mit aufgebaut hat, erklärt: «Spielen wir als Kind oder in der Jugend ein Instrument oder singen, speichern wir das Gelernte tief im Hirn». Bei Menschen mit demenzieller Erkrankung zeige sich das besonders deutlich. Werden Hirnareale, die für das Gedächtnis verantwortlich sind, beschädigt, übernehmen andere die Erinnerungen an die Musik. So verbinden wir Musikstücke mit Emotionen. Durch das Spielen oder Singen kann das Glück nacherlebt werden, das die Lieder früher schon auslösten. So funktioniert die Musik als Brücke in die Vergangenheit. «Richtig angeleitet schafft Musikgeragogik Freude und damit Lebensqualität», so Marc Brand weiter.
Es gibt auch ein finanzielles Argument, das für den Beizug von Musikgeragoginnen und –geragogen spricht: «Fachleute kosten zwar etwas. Wird allerdings ein umfassendes Musikgeragogik-Konzept eingeführt, lässt sich insgesamt der finanzielle Aufwand senken», sagt Marc Brand. Als Gründe nennt er sinkenden Medikamenteneinsatz und geringeren Pflegeaufwand.
Hightech aus Filmindustrie
Das mögen auch Gründe für MMMP und die Forschung rund um Musiktherapie und Parkinson sein. Die ersten Untersuchungen zumindest sind vielversprechend. Das beweist ein Motion-Capture-Labor, welches das Forschungsteam am Hochschulstandort Kampus Südpol in Kriens aufgebaut hat. Die Motion-Capture-Technologie, welche ursprünglich aus dem Film stammt und dafür verwendet wird, Bewegungen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf computeranimierte Figuren zu übertragen, misst die Bewegungen der Parkinson-Erkrankten sehr präzise. Die Probandinnen und Probanden müssen nach dem Musikhören einen kleinen Parcours absolvieren: Von einem Stuhl aufstehen, durch eine Tür schreiten und einen Schlüssel aufheben – für Gesunde simpel, für Menschen mit Parkinson oft beschwerlich.
So funktioniert das Motion-Capture-Labor der HSLU
Mithilfe mehrerer Infrarot-Kameras und einer drucksensitiven Matte zeichnen die Forschenden alle Bewegungen auf. Daraus erstellen sie ein 3D-Modell der Person. So lassen sich auch kleinste Veränderungen der Beweglichkeit nach dem Musikhören feststellen. Es zeigt sich: «Musik führt nicht nur zu einer gefühlten Verbesserung; das Zittern und die Gleichgewichtsstörungen gehen messbar zurück», sagt Dawn Rose. Nun wird die Forschung in diesem Bereich intensiviert: Die Hauptmessreihe im Motion-Capture-Labor wird im Frühjahr 2024 an der HSLU - Musik starten. Das Forschungsteam sucht noch nach Probandinnen und Probanden.
Spotify für Parkinson-Erkrankte
Eine weitere Massnahme zur Linderung von Parkinson-Symptomen, welche in Workshops in Zusammenarbeit mit den Betroffenen entstanden ist, ist «eine Art Spotify für Parkinson», wie es Dawn Rose nennt. Die Forschenden planen, auf Basis der Messungen und Workshops eine Musikplattform aufzubauen. Betroffene sollen hier die Musikstücke aus ihrer persönlichen Jukebox hochladen, inklusive Beschriebe, in welcher Lebenssituation ihnen diese besonders helfen. Andere Erkrankte können die Musik dann ebenfalls hören, ob zuhause oder unterwegs via Smartphone. Auch Ärztinnen und Ärzte sowie auf Parkinson spezialisierte Therapeutinnen und Therapeuten werden auf die Plattform zugreifen können.
Wieder vereint mit der «Freundin»
Neben Klassik, Filmmusik oder Jazz wird dort garantiert auch Volksmusik zu finden sein – das Lieblings-Genre von Toni Scherrer. Das Mitglied des Jodelclubs Wülfingen ist froh um seine persönliche Jukebox: «Die Harmonien des Ländlers wirken bei mir fast wie ein Medikament», erzählt er. Die Teilnahme am Projekt bewog ihn dazu, eine Ergotherapie zu besuchen. In monatelangen Sitzungen lernte Scherrer, das Zittern in seiner linken Hand zu kontrollieren.
Heute ist der gebürtige Winterthurer wieder mit seiner «Freundin» vereint: Wann immer es ihm schlecht geht, «das Zittern überhandnimmt», wie er sagt, setzt er sich hin und spielt drauf los. Schon nur ein paar Minuten reichten, und er fühle sich über Stunden hinweg besser. «Plötzlich macht der ganze Körper wieder mit, das Zittern nimmt über Stunden hinweg ab, meine Stimmung hellt sich auf. Es ist ein Wow-Erlebnis – jedes Mal!»
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