Text: Christina Renggli, ZBA Sursee / Blogredaktion
Bilder: Christina Renggli
Was fällt uns akustisch auf, wenn wir in ein anderes Land, eine neue Stadt, eine unbekannte Wohnung ziehen? Welche Klänge begleiten uns dort, wo wir leben? Und wie beeinflussen Geräusche unser Vertrautsein mit einem Ort? 14 Jugendliche des Zentrums für Brückenangebote ZBA Sursee erarbeiteten vielfältige und eindrückliche Hörbeiträge und geben so Einblick in ihre Lebensgeschichten.
«Ohren auf Reisen» ist ein Projekt der kulturellen Teilhabe für Jugendliche und Erwachsene aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Christina Renggli, Klassenlehrerin und Coach am Surseer Zentrum für Brückenangebote hörte im Frühling 2022 von diesem Projekt des Vereins «Zuhören Schweiz» und war gleich überzeugt, dass sie damit ihre Schülerinnen und Schüler begeistern könnte. Die 14 Jugendlichen ihrer Klasse SU21 stammen quasi aus der ganzen Welt - Sri Lanka, Portugal, Rumänien, Italien, Dominikanische Republik, Syrien, Afghanistan, Nordmazedonien, Marokko und Eritrea - und haben teilweise schwierige und traumatische Wege hinter sich, bis sie in die Schweiz gelangten. Nun besuchen sie alle für ein Jahr die IBA-B-Klasse bei Christina Renggli.
ð Mit Klick auf das Porträt hören Sie die jeweilige Geschichte.
«Tausend Geräusche in meinem Leben»
«Und wirklich, die Klasse war offen und gespannt, was sie erwartet», erzählt Christina Renggli. Zusammen mit Christof Arnold von der Radioschule klipp+klang gestaltet die Klasse SU21 an fünf Workshop-Nachmittagen im Oktober und November 2022 Audio-Collagen und Radiobeiträge. Dabei schreiben die Lernenden Geschichten zu typischen Hörumgebungen und besonderen Klangerlebnissen entweder aus ihrem früheren oder dem gegenwärtigen Zuhause. Das Aufschreiben der eigenen Geschichte in deutscher Sprache und das gegenseitige Vortragen gehörte zum Lernprozess für die jungen Leute.
Die Workshop-Nachmittage wurden jeweils mit einem kurzen Audio-Quiz gestartet, welches die Lernenden während der Woche selbst erstellt haben. «Dies hat mich dazu gebracht, den Geräuschen um mich herum mehr Aufmerksamkeit zu schenken» sagt Mariana. Und sie fügt an: «Ich habe dabei gelernt, dass es in meinem Leben tausend Geräusche gibt, die ich noch nie bemerkt habe. Bei den Aufnahmen habe ich gemerkt, dass man jeden Ton unterscheiden kann, wenn man genau hinhört».
Komplizierte Geräusche….
In einem nächsten Schritt ging es darum, die Audio-Aufnahmen aus dem Alltag ins Programm Audacity zu importieren und mit den Effekten zu experimentieren.
Dieser Teil diente dem Kennenlernen der Audio-Geräte sowie des Programms, mit dem im Folgenden gearbeitet wird. Wissam erzählt: «Die Audio-Quizze sowie das Ausprobieren der Möglichkeiten mit dem Programm Audacity waren wirklich eine lustige Erfahrung,
obwohl ich dachte, es wäre langweilig. Aber wir haben die Geräusche erraten und verschiedene Geschichten darüber gehört. Ich habe viele Sachen gelernt, zum Beispiel, wie man komplizierte Geräusche macht, die schwer zu erraten sind. Das hat Spass gemacht».
…und Aufnahmen im Kleiderschrank
Anschliessend galt es, die eigene Hörgeschichte zu vertonen. Dabei werden unterschiedliche Strategien gewählt: Einige üben den Text zuerst mehrmals, bevor sie die Aufnahme starten, andere legen sogleich mit der Aufnahme los und korrigieren Fehler anschliessend. Die Lernenden nehmen die Geräusche entweder direkt auf, oder recherchieren sie im Internet und laden die entsprechende Datei herunter. Aaron hatte eine spezielle Technik: «Ich habe alle Höraufnahmen in meinen Kleiderschrank aufgenommen, diesen Tipp gab mir Herr Arnold. Die Tonqualität ist sehr gut zwischen den Kleidern und es gibt keine Nebengeräusche». Auch Nabila war froh um gute Hinweise.
«Herr Arnold hat mir ein paar Tipps gegeben, wie ich die unklaren Töne löschen muss oder wie ich die Geräusche lauter machen kann. Frau Renggli hat es dann auch angehört und sagte, es ist perfekt. Das hat mir ein gutes Gefühlt gegeben. Die grösste Schwierigkeit war, die Geräusche zu schneiden und zu ordnen. Aber ich habe es geschafft».
Sobald alle die einzelnen Audiodateien zusammengefügt und diese mit Effekten so versehen hatten, dass die Geschichte ihren Vorstellungen entspricht, wurden die Hörgeschichten in Gruppen kritisch angehört und Feinkorrekturen aufgrund der Feedbackrunde vorgenommen. «Ich mochte es nicht wirklich, die Audios zusammen zu schneiden», meint Beatriz, «aber es war eine grossartige Erfahrung, mich selbst herauszufordern».
Exkursion zu den Profis bei Radio 3FACH
Zum Projekt gehörte auch eine Exkursion ins Radiostudio 3FACH in Luzern. Bei der Führung konnten die Lernenden sehen, wie die Arbeit im Radio aufgebaut ist und sie durften im Radiostudio eine eigene Aufnahme machen. Dadurch wurde ihnen bewusst, dass die Arbeit im Radiostudio sehr ähnlich aufgebaut ist wie die Audiodateien, welche sie im Projekt erstellt haben. Mit dieser Exkursion wurde somit ein direkter Lebensweltbezug hergestellt, da viele der Lernenden regelmässig Radio hören und so einen Bezug zu ihrer Arbeitsweise an der Hörgeschichte sehen.
«Ich habe gesehen, dass die Leute vom Radio alle Songs und Reportagen sorgfältig auswählen und vorbereiten müssen und dass diese Arbeit täglich viele Stunden in Anspruch nimmt – wir hören aber nur das Resultat am Radio», meint Beatriz. Und Aaron träumt gar von einem eigenen Studio: «Es war sehr gut und spannend gleichzeitig, viele Leute mit verschieden Stil und unterschiedlichen Rollen bei der Arbeit zu sehen. Das Studio hat mir sehr gut gefallen und wie das alles funktioniert. Ich möchte gern eines haben, damit ich Musik machen kann».
Aufwand hat sich gelohnt
«Es war ein grosser Aufwand, aber es hat sich gelohnt», bilanziert Lehrerin Christina Renggli. «Die Mehrsprachigkeit, unterschiedliche Kompetenzen, Erfahrungen und Perspektiven zeigten sich als grosses Potential für Kreativität, Leistung und Innovation, sodass am Ende des Projektes 14 sehr persönliche Hörgeschichten entstanden sind». Dadurch, dass im Fach Informatik die Werbeflyer gestaltet wurden und die Lernenden sich wöchentlich mit neuen Reflexionsfragen auseinandersetzten, war das Projekt über die Workshop-Nachmittage hinaus und auch in anderen Schulfächern präsent. Die Jugendlichen schnupperten Radioluft, sammelten neue Erfahrungen, stärkten ihr Selbstbewusstsein und lernten neue Tools im Audio- und Kulturbereich kennen.
Wanderausstellung in Sursee und Luzern
Und nun steht schon bald die Vernissage von «Ohren auf Reisen» an. Die Lernenden werden auch hier aktiv einbezogen, sie machen die Begrüssung, spielen ihre Hörgeschichten ab und teilen ihre Gedanken dazu mit. Aaron: «Ja ich freu mich auf die Vernissage und hoffentlich gefällt es den Leuten, was ich gemacht habe. I can’t wait!»
Wann und wo?
9. Januar – 4. Februar 2023
Hörausstellung Regionalbibliothek Sursee und Zentrum für Brückenangebote Sursee
Öffentliche Vernissage am Montag, 9. Januar 2023 um 16:15 Uhr am Baldeggerweg 2 in Sursee, inkl. Apero – alle sind dazu herzlich eingeladen!
4. Februar – 5. März 2023 Hörausstellung Stadtbibliothek Luzern
«Ohren auf Reisen» - Alle 14 Tracks
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Dagmar Boos-Felber (Mittwoch, 01 Februar 2023 11:22)
Wow, diese "Ohren auf Reisen" sind wundervolle, sehr berührende Beiträge zu einer vielfältigen Welt. Vielen Dank!