Autorin: Mirjam Oertli
Fotos: Pigsels
Wie erleben Kinder und Jugendliche ihr Handy? Sind Smartphones ein identitätsstiftendes Hilfsmittel oder ein gefährliches Mobbing-Tool? Eine an der Universität Luzern verfasste Studie liefert differenzierte Antworten.
«Am liebsten würde ich alles verbieten!», seufzt eine Mutter an einem Infoabend über Kinder und neue Medien. Es ist ein junges Phänomen, vor dem die Gesellschaft, vor allem Eltern stehen: Smartphones sind allgegenwärtig – auch in Kinderhand. 62 Prozent der 10- bis 11-Jährigen und 82 Prozent der 12- bis 13-Jährigen gaben in der Mike-Studie 2017 an, ein Handy zu besitzen. Gar 97 Prozent waren es bei den 12- bis 13-Jährigen gemäss der auf Oberstufe durchgeführten James-Studie 2018. Fast alle, also.
Im öffentlichen Diskurs dominieren erwachsene, oft normative Perspektiven: In den Medien machen Berichte von gaming-süchtigen Schulkindern die Runde. Auch die Forschung ist teils geprägt von einem auf Pathologien gerichteten Blick. Was aber haben Kinder – verstanden als kompetente Akteure und Akteurinnen – zu sagen? Erstaunlich viel, wie meine an der Universität Luzern verfasste und nun als Buch erschienene Masterarbeit aufzeigen konnte. Sie stützt sich auf Gruppengespräche mit Kindern zwischen 10 und 12 Jahren und die sogenannte Dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack.
Zentral im familiären Beziehungsgefüge
Zunächst fällt auf, wie viel Raum alle untersuchten Kindergruppen in der Diskussion zum Smartphone ihren Eltern einräumen. Manche beschweren sich über Kontrollen, andere fühlen sich unterstützt, teils beschützt. Doch auf alle trifft zu: Das Gerät scheint einen zentralen Stellenwert im familiären Beziehungsgefüge zu haben, insbesondere im Hinblick darauf, wie die Kinder ihre Eltern wahrnehmen. Via Gerät wird aufbegehrt oder kooperiert – so oder so aber wirkt es bestätigend auf die generationale Ordnung. Das heisst, es bestätigt Kinder sozusagen in ihrem Kindsein und Erwachsene in ihrem Erwachsensein sowie, damit verbunden, entsprechende Hierarchien.
Auch auf Autonomie, die mit dem Smartphone erlebt – oder, bei Verboten: verwehrt – wird, liegt starkes Gewicht. So schätzen die Kinder unter anderem die selbst steuerbare Unterhaltung oder die via das Gerät erlebte Privatsphäre. Auch erfahren sie teils mehr Autonomie, weil sie dank Handy allein in die Stadt oder zu Hobbys gehen können oder dürfen. So wirkt es wie eine «Nabelschnur», die das Sicherheitsbedürfnis von Eltern und/oder Kindern bedient, ein Begriff, den Kommunikationswissenschaftler Rich Ling prägte. Und womit auch eine in der Literatur beschriebene Spannung zwischen Autonomie und Kontrolle entsteht, welche die Kinder allerdings (noch?) kaum thematisieren.
Von der Verbundenheit mit Peers…
Wichtig für die Kinder scheint auch die soziale Teilhabe: Durch das Smartphone bleiben sie mit Kameradinnen und Kameraden verbunden. Sie nehmen Teil an YouTube-Trends oder lassen sich für ihre Selbstdarstellung inspirieren. Auch bestätigen und festigen sie via das Verbundensein, z. B. über WhatsApp oder über gemeinsames Gaming, ihre Peer- und Freundschaftsbeziehungen. Allerdings erwähnen sie auch Schattenseiten, wie Beleidigungen und Mobbing. Eine Gruppe berichtet hierzu von einem Streit, den sie als schlimmer zu erleben schien, als wenn er offline stattgefunden hätte. Eine andere Gruppe thematisiert, dass ein Kind der Gruppe auf Social Media von Mitschülern mit Kommentaren beleidigt wurde. Dabei wird aber auch berichtet, wie eigenverantwortlich und kompetent reagiert wurde: Im ersten Fall, indem Eltern und Lehrpersonen beigezogen wurden, die bei der Problemlösung halfen. Im zweiten Fall, indem die Betroffene zum Selbstschutz den Social Media Account löschte.
… bis zu Gefühlen des Ausgeschlossenseins
Neben negativer Teilhabe scheinen bei manchen Kindergruppen Gefühle des Ausgeschlossenseins auf. Dies, wenn etwa kein Gerät besitzt, kein WhatsApp benutzt oder ein angesagtes Game nicht gespielt werden darf. So erleben Kinder, die gemeinsam chatten oder gamen, dies als Bestätigung und Festigung ihrer Beziehung. Andere, die – z. B. aufgrund elterlicher Restriktionen – nicht mitmachen können, nehmen sich als aussen vor wahr. Wer kein WhatsApp oder gar kein Gerät nutzen darf, erlebt überdies teils auch logistische Hindernisse: Bemängelt wird u. a., dass man weniger gut «abmachen» kann. Kinder, die im Vergleich solche strengeren elterlichen Restriktionen haben, erfahren damit neben den Gefühlen des Ausgeschlossenseins auch ein Unvermögen, einer bei Rich Ling thematisierten, so genannt reziproken Erwartungslogik zu entsprechen, die kleinen Gruppen durch den Smartphone-Gebrauch auferlegt wird. Diesen Gefühlen begegnen diese Kinder teils mit Verständnis gegenüber der elterlichen Haltung sowie mit Kritik am Smartphone-Umgang der anderen, teils aber auch mit Ambivalenz.
Identitätsbildendes Hilfsmittel
Eltern, Autonomie und Teilhabe: In diesem Spannungsfeld von generationaler Ordnung und beginnender Eigenständigkeit bewegen sich die Kinder – wobei sie sich und ihre Kindheit auch immer wieder in einen grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang einordnen. Und auch wenn sie innerhalb der Schwerpunkte unterschiedliche Haltungen zeigen – was unter anderem auf verschiedenen Erfahrungsräumen der Kinder gründen dürfte: Für alle scheint das Smartphone Hilfsmittel und Anregung für entsprechende Herausforderungen zu sein, letztlich auch identitätsbildend zu wirken.
Dabei scheinen sie sich durchaus der Gefahren bewusst. Fast alle Gruppen thematisieren das Smartphone beispielsweise als süchtig machend. Dabei stellen sie es aber auch wiederholt und oft fast gleichzeitig im Licht von Normalität und Notwendigkeit dar. Auch thematisieren sie verschiedene Arten der Selbstregulation: Manche erzählen, dass sie das Rausgehen mit Freunden der Handynutzung vorziehen. Andere schildern, wie sie freiwillig aus Chats ausgestiegen sind. Weil es zu viel wurde oder weil sie, wie oben beschrieben, Beleidigungen erlebten. So scheinen sie sich keineswegs nur als passive Nutzerinnen und Nutzer zu verstehen.
Kinderperspektive erhöht Verständnis
Vor allem die Autonomie und die Teilhabe, welche die Kinder mit dem Gerät verknüpfen, wurden in der Literatur schon für Teenager beschrieben. Die Untersuchung zeigt, dass auch 10- bis 12-Jährige dieses Potenzial für sich entdecken. Läutet der kindliche Smartphone-Besitz also etwa früher die Adoleszenz ein? Stimmt die These des amerikanischen Medienwissenschaftlers Neil Postman, dass Medien dazu beitragen, Kindheit verschwinden zu lassen? Zwar scheint das Gerät für die Kinder mit Autonomie und Teilhabe verknüpft. Unklar bleibt aber, ob es nur zur Manifestation dieser auch alterstypisch allmählich erwartbaren Themen dient, und als Hilfsmittel bei der Bewältigung entsprechender Herausforderungen, oder ob es solche Bedürfnisse
früher triggert. Im Sinne der kindheitssoziologischen Annahme, dass Kindheit konstruiert und veränderlich ist, sind Veränderungen durch das Smartphone zwar anzunehmen. Sie zweifelsfrei als Kindheitsverkürzung zu deuten und allein dem Gerät zuzuschreiben, würde der Komplexität der Sache aber kaum gerecht.
Sicher ist: Die mobile Verfügbarkeit heutiger Geräte und ihre umfassende Einbettung in den gesamten Alltag bergen neue gesellschaftliche Herausforderungen. Risiken und Gefahren zu erforschen, ist und bleibt Notwendigkeit. Auch die Perspektiven von Kindern einzunehmen, kann aber ein umfassenderes Verständnis heutigen Aufwachsens verschaffen und zum konstruktiven intergenerationalen Austausch beitragen. Denn, um auf die eingangs zitierte Mutter zurückzukommen: Alles verbieten? Vielleicht möglich. Aber wirklich machbar oder zielführend? Vielleicht eher nicht.
«Jetzt spricht die Generation Smartphone»: Beitrag im Magazin Cogito der Universität Luzern
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