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Soziologie-Studierende erstellen alternative Stadtansichten im Postkartenformat

Das Interview mit Dr. Sebastian W. Hoggenmüller, Medien- und Kommunikationssoziologe, führte Valerio Moreno, Student der Kulturwissenschaften mit Major Soziologie im Bachelor an der Universität Luzern.

 

Studierende eines soziologischen Masterseminars an der Universität Luzern konzipierten gemeinsam mit ihrem Dozenten und einem Fotografen eine Postkartenbox mit etwas anderen Luzerner Stadtansichten. Die 30 Postkarten zeigen einen soziologisch geschulten Blick, der etablierte Sehgewohnheiten hinterfragt und das gewohnte Bild von Luzern als touristisch-idyllisches Motiv herausfordert. Projektleiter Sebastian W. Hoggenmüller von der UniLu gibt im Interview Einblicke in die Lehrveranstaltung, das daraus entstandene Postkartenprojekt und in den Forschungsbereich der Visuellen Soziologie.

Bilder: Luzerner Fotosujets der anderen Art – die entstandenen Postkarten bilden ein «Luzern auf den zweiten Blick» ab (draufklicken zur Detailansicht).

Sebastian W. Hoggenmüller, das Postkarten-Projekt entstand aus einem Masterseminar. Was war dessen Inhalt?

Sebastian W. Hoggenmüller: Ausgangspunkt des Seminars war eine simple Beobachtung: Sucht man in analogen und digitalen Medien nach gegenwärtigen Fotografien der Stadt Luzern, stösst man immerzu auf sich gleichende Bilder – Luzern wird als touristisches Motiv gezeigt, als idyllische Stadt am See mit Bergpanorama. Mit dem Seminar haben wir die Idee verfolgt, jene etablierten, geradezu selbstverständlichen Fotopraktiken und Sehgewohnheiten systematisch zu hinterfragen und uns selbst von diesen alltäglichen Routinen des Bildhandelns und Bildsehens auf experimentelle Weise zu distanzieren.

 

Wie haben Sie diese Idee konkret umgesetzt?

Wir haben die Studierenden mit der eigenen Fotokamera auf die Suche nach alternativen Stadtansichten, unscheinbaren Plätzen und ungewöhnlichen Perspektiven geschickt. Sie sollten dazu auf ihren gewohnten Wegen gehen und sich in «ihrem» Luzern bewegen, aber: kontinuierlich mit Blick durch den Sucher der Fotokamera – zumindest sinnbildlich gesprochen. Die Intention dabei war, im eigenen fotografischen Handeln die vertraute Heimat Luzern – in Anlehnung an Helmuth Plessner und dessen philosophischer Anthropologie – «mit anderen Augen» zu sehen, das heisst sich zu «befremden», um letztlich für Neues im Alltäglichen offen zu sein und Unbekanntes im scheinbar Bekannten entdecken zu können.


Dr. Sebastian W. Hoggenmüller ist Oberassistent am Soziologischen Seminar der Universität Luzern und hat die Dozentur Kunst- & Designtheorie an der Hochschule Luzern – Design & Kunst inne. Aktuell forscht er im Rahmen seines Habilitationsprojekts zur visuellen Kommunikation von globalen Krisen. In seinen materialen Analysen nutzt er unterschiedliche künstlerisch-gestalterische Mittel für die Sinnrekonstruktion visueller Kommunikationszusammenhänge und untersucht dabei deren Potenziale und Grenzen.

 


Die Studierenden konnten also raus in die Welt gehen, statt sich ausschliesslich mit Theorie zu befassen.

Richtig, im Rahmen des Seminars mussten sie das sogar immer wieder tun. Aber auch während der anschliessenden Projektphase, in der die Postkartenbox konzeptualisiert und realisiert wurde, war das stete Wechselspiel von Theorie und Praxis charakteristisch. Denn zum einen konnten die Studierenden die ursprünglich im Kontext der Lehrveranstaltung erreichten Lernziele und gewonnenen Erkenntnisse mit der Erarbeitung einer gemeinsamen Publikation nachhaltig vertiefen. Zum anderen war das Ziel, durch die Planung und Umsetzung der Publikation und des Lancierungsanlasses, an dem wir das Projekt im Mai dieses Jahres in der Kunsthalle Luzern vorgestellt haben, sowohl berufsrelevante Kompetenzen im Bereich Projektmanagement zu erwerben als auch die Zusammenarbeit mit ausserakademischen Stellen im konkreten Tun zu erlernen.

 

Warum publizieren Sie nun die Fotografien als Postkarten?

Die Veröffentlichung der Bilder im Postkartenformat soll dafür sorgen, dass die Fotografien des Luzerner Alltags ihren Weg zurück in den Stadtalltag und über dessen Grenzen hinaus finden. Soziologische Forschung an der Universität Luzern, so der dahinterliegende Gedanke, soll nicht nur Gesellschaft untersuchen, sie soll auch gesellschaftlich sichtbar sein. Mit den Postkarten möchten wir also ausdrücklich und ganz konkret dazu einladen, alternative Luzerner Stadtansichten zu versenden und damit etablierte Bildwelten auch auf diese Weise herauszufordern.

 

Soziologische Forschung verbindet man in der Regel vor allem mit Statistiken, ethnografischen Beobachtungen oder qualitativen Interviews. Inwiefern sind auch Bilder für die Soziologie von Interesse?

Augenscheinlich spielen Bilder und visuelle Kommunikationsprozesse in unserem Alltag eine zunehmend wichtigere Rolle. Wir kommunizieren quasi ununterbrochen über bildbasierte Instant-Messaging-Dienste wie Snapchat, kuratieren unsere Erlebnisse auf Instagram, konsumieren Video-Tutorials auf YouTube oder produzieren selbst Kurzvideos für TikTok. Gleichzeitig spielen visuelle Medien und visuelle Methoden in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen eine immer bedeutendere Rolle – sei es in Form von bildgebenden Verfahren und Deep Learning in der medizinischen Diagnostik; sei es durch den spätestens seit der Corona-Pandemie geradezu selbstverständlich gewordenen Einsatz von Videokonferenzen an der Universität; oder sei es als Virtual-, Mixed- und Augmented-Reality-Anwendungen u. a. im Kontext von Computerspielen und Live-Sportübertragungen, beim Online-Shopping mit Virtual Fitting Rooms oder als elementarer Bestandteil von künstlerischen Exponaten. Diese Konjunktur verändert und erweitert die gesellschaftlichen Bedeutungen, Funktionen und Gebrauchsweisen von Bildern denkbar umfassend und wird infolgedessen in der Soziologie sehr dynamisch untersucht.

In welcher Form findet diese Untersuchung von Bildern in der Soziologie statt?

Das soziologische Interesse richtet sich grundsätzlich auf ganz verschiedene Aspekte und Dimensionen von Bildern und visueller Kommunikation. Zum Beispiel gibt es Studien, die speziell die Bildproduktion fokussieren, andere, die sich mit der Vermittlung und Distribution visueller Kommunikation beschäftigen oder deren Rezeption analysieren, und nochmals andere, die nach der grundsätzlichen Bestimmung der besonderen kommunikativen Qualität und dem spezifischen sozialen Potenzial von Bildern fragen, das heisst nach der grundsätzlichen Bestimmung ihres epistemischen Charakters.

 

Ist das soziologische Interesse an Bildern ein aktuelles Phänomen oder hat dies in der Soziologie eine gewisse Tradition?

Beides. Eine Tradition in der Auseinandersetzung mit visuellen Phänomenen zeigt sich meines Erachtens zunächst in mindestens zweierlei Hinsicht. Einerseits theoretisiert die Soziologie bereits seit ihren Anfängen etwa mit dem Sehen und dem Auge, dem Blick, der Gestik und der Mimik ausdrücklich die Visualität sozialer Welten. Andererseits ist speziell im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch die zunehmende technische Medialisierung durch Fotografie, Film und Fernsehen eine breite Aufmerksamkeit für die Kulturbedeutung der Bilder entstanden. In diesem Zuge kam in den USA auch die Visuelle Soziologie auf, im deutschsprachigen Raum hingegen stiess sie vergleichsweise spät auf Interesse. Ein aktuelles Phänomen wiederum ist das soziologische Interesse an Bildern, da sich die voranschreitende Digitalisierung des sozialen Alltags im Allgemeinen und der visuellen Kommunikation im Besonderen auf die Bedeutung und den Gebrauch von Bildern stark auswirkt. Und dies mit zum Teil erheblichen Folgen für die zwischenmenschliche Verständigung und das soziale Geschehen. Aber auch in der Soziologie selbst führt die zunehmende Verbreitung digitaler visueller Medien dazu, dass Fotografie und Video immer mehr und immer unkomplizierter als Erhebungsinstrumente genutzt werden bzw. nutzbar sind. Man denke allein an das Smartphone, das es jeder Soziologin und jedem Soziologen ermöglicht, an so gut wie jedem Ort und zu jeder Zeit beliebig viele Bilder und Videos zu machen.

 

Diese Entwicklung hört sich nach vielfältigen Möglichkeiten und einem grossen Potenzial für die Soziologie an. 

Einerseits ist sie dies, ja, andererseits gehen damit aber auch neue Problemstellungen einher, nicht zuletzt auf methodischer Ebene. Denn so sehr die Datengenerierung durch die Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion positiv unterstützt wird, so sehr stellen sich für die Datenanalyse neue Herausforderungen und Probleme. So wird etwa das Bildmaterial, das wir als Forschende vorfinden, selbst erstellen oder von den uns interessierenden Personen bzw. Personengruppen explizit anfertigen lassen, im Zuge des digitalen Wandels tendenziell immer umfangreicher und im wahrsten Wortsinn unüberschaubar. Gleichzeitig ist es aber eine noch weitgehend offene Frage, wie grosse Bilddatenmengen und erst recht sogenannte big visual data, wie sie etwa in digitalen Medien bzw. Plattformen der Regelfall sind, für soziologische Untersuchungen aufbereitet, analysiert und dargestellt werden können. So wäre es in unserem Seminarkontext beispielsweise ebenso spannend gewesen, der Frage nachzugehen, wie sich die schiere Vielzahl von bereits existierenden Luzern-Fotografien im Internet systematisch untersuchen liesse – womit wir aber ein gänzlich anderes Forschungsinteresse verfolgt hätten.

 

Ein gutes Stichwort: Kommen wir abschliessend nochmals zu Ihrem Postkartenprojekt zurück. Wie haben Sie dieses eineinhalb Jahre andauernde Projekt finanzieren können?

Die Postkartenbox und die Veranstaltung in der Kunsthalle wurden durch verschiedene Stellen grosszügig gefördert. Neben der Universitären Lehrkommission (ULEKO), die sich grundsätzlich für die Weiterentwicklung der Lehre engagiert und innovative Lehrformen fördert, haben uns dankenswerterweise das Dekanat der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, das Soziologische Seminar und die Fachschaft der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät (KUSO) der Universität Luzern finanziell unterstützt und das Projekt damit erst ermöglicht. Gleichwohl konnten mit den gesprochenen Beiträgen nicht alle Kosten des Projekts restlos gedeckt werden. Um diese Lücke zu schliessen, bieten wir die Postkartenbox zum nun verbleibenden Selbstkostenpreis zum Verkauf an.

 

Planen Sie weitere Projekte oder vergleichbare Seminare, in denen Studierende solch praktische Hands-On-Erfahrungen machen können?

Ja, unbedingt! In der Zwischenzeit gab es auch schon eine weitere Lehrveranstaltung dieser Art, in diesem Fall im Co-Teaching mit einer ETH-Architektin, thematisch zur Wechselbeziehung von Architektur und Gesellschaft am Beispiel totaler Institutionen – klassischerweise sind darunter Gefängnisse, psychiatrische Kliniken, Klöster, Kasernen und bestimmte Heime zu verstehen. Dabei sind studentische Forschungsarbeiten entstanden, in denen Gebäudefotografien, Planmaterialien, Schnitte und Katasterpläne von ganz unterschiedlichen empirischen Fällen untersucht wurden. Das Spektrum reichte von der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Hindelbank über Demenzdörfer in den Niederlanden bis hin zu Geisha-Vierteln in Kyoto und die North Family Siedlung der Mount Lebanon Shaker Community in den USA. Und für ein zukünftiges Seminar, das in Kooperation mit einer Luzerner Illustratorin angedacht ist, schreibe ich aktuell die Gesuche. Bei diesem Seminar wird es zum einen um das Miteinander von Grafikdesign und Visueller Soziologie gehen. Zum anderen möchten wir das Augenmerk auf die Vermittlung und die Weiterentwicklung der visuellen Methode der Ästhetischen Re|Konstruktionsanalyse richten, die ich ursprünglich in meiner Doktorarbeit entwickelt und begründet habe. Ob daraus auch ein Folgeprojekt entsteht, wird sich zeigen und hängt natürlich auch ganz wesentlich an der Motivation und von den Kapazitäten der Studierenden ab, da solche Projekte fern des Curriculums zu stemmen sind. Was hingegen klar ist: So lange Lehr- und Projektangebote zu meinen Arbeitsschwerpunkten und meinem Forschungsinteresse an einer fruchtbaren Verbindung von Kunst und Wissenschaft weiterhin auf Interesse stossen, werde ich diese auch zukünftig anbieten. Die Ideen hierfür gehen mir zumindest noch nicht aus.



Kommentare: 10
  • #10

    Gesine (Mittwoch, 27 März 2024 20:48)

    Erst jetzt mitbekommen, toll!

  • #9

    Paula Unternährer (Sonntag, 15 Januar 2023 15:02)

    Bravo! �

  • #8

    Vanessa (Montag, 31 Oktober 2022 18:30)

    Der Projektleiter wurde letzte Woche u.a. für dieses Fotoprojekt mit dem Open Science Preis 2022 ausgezeichnet � https://lumosmagazin.ch/2022/10/31/forschung-fuer-alle-zugaenglich-machen-open-science-preis-2022-geht-an-dr-sebastian-w-hoggenmueller/

  • #7

    Blog-Redaktion (Montag, 10 Oktober 2022 09:37)

    @Saskia Grubert: Danke für Ihre Nachricht und die positive Rückmeldung.
    Erwerb Karten: siehe Ende Blogbeitrag.

  • #6

    Saskia Grubert (Dienstag, 04 Oktober 2022 21:23)

    Eine inspirierende Idee, auch ich gehe nun anders durch Luzern und entdecke vieles! Gibt es die Postkartenbox noch zu kaufen?

  • #5

    D. Odermatt (Mittwoch, 28 September 2022 11:08)

    Ein grosses Lob für dieses wunderbare Projekt zwischen Kunst und Wissenschaft! Die Postkarten zieren mein Luzerner Büro und werden seit Wochen geflissentlich an Bekannte verschickt.

  • #4

    Markus (Donnerstag, 08 September 2022 13:02)

    Ich habe mir die Box gestern gekauft. Es sind wirklich besondere Bilder und interessante Texte! 5/5 Sternen

  • #3

    Liana (Samstag, 03 September 2022 15:30)

    So wird Wissenschaft sichtbar - fantastico!

  • #2

    Hans (Donnerstag, 25 August 2022 16:02)

    Schade, dass mein Soziologie-Studium schon so lange zurückliegt, damals gab es leider nicht solch spannende Seminare.

  • #1

    Susanne K. (Dienstag, 23 August 2022 15:15)

    Ein wirklich tolles Projekt und ein inhaltlich spannendes Interview! Dankeschön!