· 

Herzsprung: Wie Jugendliche Freundschaft, Liebe und Sexualität ohne Gewalt lernen

Text: Vera Bergen / Vorschaubild: Luisella Planeta / Pixabay

Kinder und Jugendliche lernen an Schulen nicht nur Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften. Sie werden auch aufs Leben vorbereitet. Dazu gehört Wissen zur Gewaltprävention. Auf Sekundarstufe stärkt beispielsweise das Programm «Herzsprung» die Beziehungskompetenzen der Jugendlichen und lehrt, wie Freundschaft, Liebe und Sexualität ohne Gewalt auskommen.

In der Schweiz ist häusliche Gewalt alltäglich. Alleine im vergangenen Jahr verzeichnete das Bundesamt für Statistik 19`978 Straftaten und 25 Todesfälle im häuslichen Bereich – Opfer sind dabei meistens Frauen. Doch diese Zahlen zeigen nicht die gesamte Bandbreite häuslicher Gewalt auf. Neben Drohung, Beschimpfung oder Körperverletzung umfasst häusliche Gewalt auch subtilere, nicht strafrechtlich erfasste, Formen von körperlicher, psychischer, sexueller und finanzieller Gewalt. Diese können unentdeckt bleiben, aber dennoch verheerende Auswirkungen haben. 

 

Für Präventionsangebote im häuslichen Bereich ist es daher entscheidend zu vermitteln, wie der eigentliche Beginn von häuslicher Gewalt erkannt wird – lange bevor sichtbare Zeichen auftreten. Der österreichische Lyriker Erich Fried (1921-1988) bringt es in seinem Gedicht «die Gewalt» folgendermassen auf den Punkt:

«Die Gewalt fängt nicht an,

wenn einer einen erwürgt.

Sie fängt an, wenn einer* sagt:

`Ich liebe dich:

du gehörst mir!`»

* oder eine

Veränderung dank Gewaltprävention

Bettina von Holzen ist Koordinatorin von Herzsprung für die Luzerner Volksschulen. (Bild: Bettina von Holzen)
Bettina von Holzen ist Koordinatorin von Herzsprung für die Luzerner Volksschulen. (Bild: Bettina von Holzen)

Der Kanton Luzern bietet mit «Mein Körper gehört mir!» bereits seit vielen Jahren ein Angebot auf der Primarstufe (2.-4. Klassen) zur Prävention von sexuellem Missbrauch und zur Stärkung des Selbstbewusstseins an. Es fehlte aber bisher eine thematische Fortsetzung auf der Sekundarstufe. 

 

Hier setzt das Programm Herzsprung der Schweizerischen Gesundheitsstiftung Radix für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren an. In dieser Zeit des Heranwachsens sammeln viele Jugendliche erste sexuelle Erfahrungen und bei Dates oder in Liebesbeziehungen kann es bereits dann manchmal zu Übergriffen und Gewalt kommen. Es gibt in der Schweiz generell «immer noch Lücken in der Bekämpfung häuslicher Gewalt», sagt Bettina von Holzen, Koordinatorin von Herzsprung für die Luzerner Volksschulen. «Hier kann das Schul- und Bildungssystem einen wichtigen Beitrag leisten und Themen wie Geschlechterstereotypen, Rollenbilder, genderspezifische und gewaltlegitimierende Einstellungen im Schulalltag behandeln». Deshalb bietet die Dienststelle Volksschulbildung DVS das nationale Programm seit Herbst 2020 auch im Kanton Luzern für Jugendliche der 8. und 9. Sekundarklassen an. Unterdessen machen bereits sieben Schulstandorte bei Herzsprung mit. 

Wie funktioniert Herzsprung?

François Burri, eine Hälfte des Herzsprung-Moderationstandem der Schule Buchrain, während einer Herzsprung Lektion mit Schülerinnen und Schülern. (Quelle: Schule Buchrain)
François Burri, Teil des Herzsprung-Moderationstandems der Schule Buchrain, während einer Herzsprung-Lektion mit Schülerinnen und Schülern. (Quelle: Schule Buchrain)

Das Präventionsprogramm umfasst fünf Module à zwei Lektionen und findet idealerweise einmal wöchentlich an fünf aufeinander folgenden Wochen oder in einer Projektwoche statt. Seit Sommer 2023 gibt es zudem ein Sensibilisierungsatelier mit zwei Modulen à zwei Lektionen. Damit erhalten Schulen die Möglichkeit, Herzsprung kennenzulernen und sich davon zu überzeugen, dass das gesamte Programm für die Jugendlichen sinnvoll und erwünscht ist.

 

Während den Programmmodulen ist die Klassenlehrperson nicht anwesend, sondern schul- oder gemeindeinterne Moderatorinnen und Moderatoren, welche von der Schule gestellt werden und bei Radix eine Herzsprung-Ausbildung absolviert haben. Dieses Moderationstandem fördert die Beziehungskompetenzen der Jugendlichen in moderierten Diskussionen, Gruppen- und Einzelarbeiten und mit Fallbeispielen und Filmgeschichten. «Das Herzsprung-Programm setzt bei vielen Übungen auf Selbsterfahrung, das gefällt uns sehr», sagen Gabi Felber und François Burri, Herzsprung-Moderationstandem an der Schule Buchrain. «Herzsprung kann aufzeigen, dass jegliche erlebten Übergriffe nicht normal sind, sondern verletzendes oder missbräuchliches Verhalten». Das ist denn auch ein wichtiges Ziel der Herzsprung-Module: Die Jugendlichen sollen den Unterschied zwischen fürsorglichem und kontrollierendem oder gar missbräuchlichen Verhalten kennen und nach Herzsprung fähig sein, sich gegenseitig zu unterstützen, wenn sie oder ihre Freunde von Gewalt betroffen sind.  Weiter lernen sie, wie sie Beziehungen generell und von Anfang an respektvoll und wertschätzend und ohne jegliche Formen von Gewalt führen können. 

Die Schule muss dahinterstehen

Herzsprung hat zwar diverse Bezüge zu Kompetenzbereichen des Lehrplans 21, gehört aber nicht zum obligatorischen Schulstoff. «Zwar leistet die Dienststelle Volksschulbildung einen finanziellen Beitrag sowohl an die Ausbildungs- als auch an die Personalkosten der Moderierenden pro Durchführung an einer Klasse», erklärt Herzsprung-Koordinatorin Bettina von Holzen. Trotzdem muss das Programm in den Stundenplan eingefügt werden und die (Schul)Gemeinde leistet einen Kostenbeitrag. «Es ist daher unumgänglich, dass Schulleitung sowie Lehrpersonen den Sinn und die Notwendigkeit des Programms erkennen», so von Holzen weiter. 

Grosse Verantwortung des Moderationstandems

Schülerinnen befassen sich während einer Herzsprung-Lektion mit unterschiedlichen Gefühlen. (Bild: Schule Buchrain)
Schülerinnen befassen sich während einer Herzsprung-Lektion mit unterschiedlichen Gefühlen. (Bild: Schule Buchrain)

Nicht nur von der Schulleitung braucht es ein Commitment, auch vom Moderationstandem: Denn es muss einige Voraussetzungen erfüllen, um das Präventionsprogramm leiten zu dürfen. Die nationale Koordinationsstelle Radix schreibt vor, dass immer ein Mann und eine Frau ein Team bilden müssen, um auch «gendergetrennte Settings» zu ermöglichen. Das mache Sinn, finden Schulsozialarbeiterin Gabi Felber und François Burri, Co-Leiter der Buchrainer Schulinsel (alternativer Lernort für Kinder und Jugendliche, deren Verhalten oder Situation eine temporäre Intervention, spezielle Förderung oder Entwicklungsbegleitung ausserhalb der Klasse nötig machen) in Buchrain. Denn es habe sich gezeigt, dass «in geschlechtergetrennten Gruppenarbeiten eher persönliche Erfahrungen geteilt werden als im Plenum». Weiter sollte das Tandem in der Schulgemeinde gut verankert sein und sich «idealerweise aus Schulsozialarbeitenden und Kind/Jugend-Beauftragten einer Gemeinde zusammensetzen», sagt Bettina von Holzen. Das hat unter anderem den Vorteil, dass die Jugendlichen sich auch nach der Durchführung der Module bei Fragen oder Sorgen weiterhin an das Moderationsduo wenden können. Was laut Gabi Felber sogar ziemlich oft vorkommt: «Nach der Durchführung von Herzsprung melden sich im Nachgang mehr Teilnehmende zu einem Gespräch mit der Schulsozialarbeit an». 

Wirkung bestätigt

Bereits vor der Teilnahme des Kantons Luzern am Präventionsprogramm hat eine nationale Wirkungsevaluation (2018-2020) gezeigt, wozu Herzsprung fähig ist. Die über 1`200 befragten Jugendlichen aus zehn Kantonen waren sehr zufrieden mit dem Programm und bescheinigten ihm einen hohen Bezug zu ihrer Lebensrealität. Sie wüssten nach der Teilnahme an Herzsprung, wen sie um Hilfe bitten könnten, wenn sie sich in einer missbräuchlichen Situation befänden und würden häufiger Konfliktbewältigungsstrategien anwenden als zuvor. Zudem könnten die Jugendlichen auch besser Grenzen setzen sowie ihre Bedürfnisse ausdrücken, heisst es in der Wirkungsevaluation weiter.

 

Nachdem François Burri und Gabi Felber Herzsprung an der Schule Buchrain bei zwei Jahrgängen durchgeführt haben, können sie diese Ergebnisse bestätigen. Sie sind sich sicher: «Prävention wirkt. Und bei Herzsprung findet die Prävention genau in der Phase der Meinungsbildung der Jugendlichen statt. Das hilft ihnen, ungesunde Beziehungen zu erkennen und zu gesunden zu gestalten».


Toxic Love: Kampagne gegen häusliche Gewalt

(Bild: Kampagne Toxic Love)
(Bild: Kampagne Toxic Love)

Häusliche Gewalt ist im November 2023 auch Thema von «Toxic Love» - einer Sensibilisierungskampagne der Kantone Luzern, Basel-Stadt, Glarus, Graubünden, Ob- und Nidwalden, Schaffhausen, Solothurn und St. Gallen. Toxic Love richtet sich via soziale Medien und Werbung im öffentlichen Raum an Betroffene, Beteiligte und Unbeteiligte und hilft Frühformen und Warnsignale psychischer Gewalt zu erkennen, das Verhalten zu ändern oder zu intervenieren sowie das Gespräch mit Betroffenen oder Ausübenden zu suchen. Zudem macht Toxic Love aufmerksam auf Beratungs- und Hilfsangebote.


Von Gewalt betroffen? Hier finden Sie Unterstützung!

Hilfe für gewaltbetroffene Personen:

Polizei, Tel. 117 (Notruf)

Ambulanz, Tel. 144

Frauenhäuser für Frauen, auch mit Kindern

Mädchenhaus für Mädchen und junge Frauen (nur in Zürich)

Kinderstiftung hilft Kindern und Jugendlichen in Not

Zwüschehalt, Schutzhaus für Männer

Opferhilfe Schweiz Beratungsstellen nach Kanton

Alter ohne Gewalt für ältere Menschen und Angehörige

Dargebotene Hand Sorgen-Telefon, Tel. 143, auch via Chat erreichbar

Pro Juventute Beratung + Hilfe 147 für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

LGBT-Helpline für queere Menschen

Online-Opferberatung

Lostly - Hilfe und Unterstützung für Lernende im Kanton Luzern

 

Hilfe für gewaltausübende Personen:

Gewaltberatung Fachstellen nach Kanton


Weiterlesen:


Kommentar schreiben

Kommentare: 0