Interview: Vera Bergen
Bilder: Innosuisse
Bewegung statt Sitzen, Schwingen statt Stillstand: Mit den Netzwelten hat Architekt, Pädagoge und Schulentwickler Andreas Hammon eine neue Lernraum-Idee entwickelt, die Prof. Dr. Karin Manz an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz wissenschaftlich untersucht. Die begehbaren Seilnetze erschliessen ungenutzten Raum in Schulhäusern, fördern Konzentration und Bewegung und eröffnen Kindern und Jugendlichen eine neue Lernumgebung. Die dazugehörige Ausstellung ist derzeit an der Pädagogischen Hochschule Luzern zu sehen.
In Kürze:
- Netzwelten sind begehbare Seilnetze, die ungenutzten Luftraum in Schulhäusern in zusätzlichen Lernraum verwandeln.
- Kinder und Jugendliche lernen im Netz nicht nur sitzend, sondern auch bewegend, schwingend oder balancierend.
- Die Netzwelten wurden von Architekt, Pädagoge und Schulentwickler Andreas Hammon entwickelt und werden von Prof. Dr. Karin Manz an der Pädagogischen Hochschule FHNW wissenschaftlich erforscht.
- Im Netz spüren Kinder die Bewegungen anderer. Das stärkt Rücksichtnahme, Zusammenarbeit und gemeinsames Lernen.
- Netzwelten können auch in bestehende Schulhäuser eingebaut werden.
- Die Netzwelten-Ausstellung ist zurzeit an der Pädagogischen Hochschule Luzern zu sehen.

Die Netzwelten gehen auf die Idee von Ihnen, Andreas Hammon, zurück und werden unter Ihrer Leitung, Prof. Dr. Karin Manz, an der FHNW umgesetzt. Wie würden Sie den Grundgedanken dieses Projekts in wenigen Worten beschreiben?
Andreas Hammon AH: NETZWELTEN - begehbare Seil-/Netzkonstruktionen eröffnen mit ihren spezifischen Material- und Formeigenschaften radikal neue Möglichkeiten der Raumbildung und Nutzung im Schulbau. Sie aktivieren über ergänzende Raumebenen schlummernde Raumressourcen. Leicht, schwebend, offen und doch zugleich raumgebend, sind die Grenzen zwischen Boden, Wand und Decke, innen und aussen sowie Raum und Mobiliar fliessend. Jede Bewegung ist Gewichtsverlagerung, geht in ein Schwingen der Netzflächen über und verändert ihre Form. Mensch – Konstruktion – Raum wird zu einem körperlich erfahrbaren, dynamischen Resonanzfeld vernetzter Lern-Interaktionen und sozialer Lern-Konstellationen.
Karin Manz KM: Wir möchten Kindern und Jugendlichen eine qualitativ neuartige Lernumgebung zur Verfügung stellen, die zu mehr Bewegung motiviert. Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen sind schwerwiegende Gesundheitsrisiken und hemmen Entwicklungs- und Lernprozesse. Ein begehbares Netz ist lustvoll, bewegungsanregend und lädt ein, es sich zum Lernen bequem zu machen. Es ist vielseitig nutzbar und lässt Raum für eigene Gestaltungen und Nutzung. Gleichzeitig unterstützt es die Bewegung (beim Einsteigen und Klettern) und das stetige Ausbalancieren mit der inneren Muskulatur (beim Sitzen) die Hirnfunktionen beim kognitiven Lernen. Das Lernen in Netzwelten ist stets ein soziales Ereignis, denn der andere bewegt einem stets – im wahrsten Sinne des Wortes.
Was gab den Impuls, die Netzwelten zu entwickeln?
AH: Kinderzeichnungen mit Hängematten machten uns anfänglich ratlos. Das passt doch nicht zur Schule! Gespräche mit Kinderärzten und Therapeuten, die über die schaukelnde Bewegung von Hängematten, den Gleichgewichtssinn zur Stabilisierung des psychischen Gleichgewichts gezielt anregen, gaben mir die Möglichkeit, das hinter dem Bildmotiv der Hängematte stehende Grundbedürfnisse der Kinder nach Bewegung, schaukelndes Schwingen und körperlicher Resonanz zu erkennen und für den Schulbau zu übersetzen.

Welche pädagogischen Ziele stehen im Mittelpunkt, wenn Bewegung als Teil des Lernens verstanden wird?
KM: Die Schule von heute findet noch in Lernräumen und -arrangements des 19. Jahrhunderts statt. Diese entsprechen nicht mehr den übergeordneten Lernzielen unserer Zeit: 21. Century-Skills wie Kritisches Denken, Kollaboration, Kommunikation, Kreativität. Die neurowissenschaftliche Forschung hat zudem den Zusammenhang zwischen körperlicher und geistiger Aktivität gezeigt. Neben einer Verbesserung des Lernens trainieren Schülerinnen und Schüler aber auch personale (metakognitive) Kompetenzen, indem sie beispielsweise selber den für sie und die anstehende Lernaufgabe geeigneten Arbeitsort wählen oder soziale Kompetenzen, indem sie im Netz Rücksicht auf andere nehmen und einander helfen. Das Projekt «Netzwelten» ist an der Schnittstelle von Unterrichtsentwicklung, Schul(kultur)entwicklung, Lernraumentwicklung und Gesundheitsförderung angesiedelt.

Welche räumlichen oder architektonischen Motive sind entscheidend, um Bewegung und Lernen zu verbinden?
AH: Architektur ist immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Das getaktete und normierende schulische Lernen in Reih und Glied, ist ein Phänomen des Industriezeitalters und hat den Schulbau des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt. Zeitgleich wurden die grossen Flüsse Europas kanalisiert, die wir heute renaturieren, um die Artenvielfalt, Selbstregulation und Resilienz der Ökosysteme zu fördern.
Die «Renaturierung» der räumlichen Lernumgebung eröffnet für den schulischen Integrationsauftrag einerseits neue pädagogische Handlungsspielräume für die Lehrpersonen und andererseits fördernde und entlastende Verhaltensspielräume der Selbstregulation für Schülerinnen und Schüler (Neurodiversität ca. 20%, AD(H)S ca. 5%). In diesem Sinne erweitern Netzwelten die räumliche Lernumgebung durch Lernen in und mit Bewegung.
Infobox: Wanderausstellung «Netzwelten» macht Halt an der PH Luzern

- Die Netzwelten sind auf Roadshow in der ganzen Schweiz.
- Die vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Installation mit Ausstellung bietet die Gelegenheit, die Netze selbst auszuprobieren und zu erleben.
- Zwei Ergebnisse aus dem Innosuisse-Projekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» (2022–2023) werden ausgestellt: ein begehbares Netz (WalkNet® von Jakob Rope Systems AG) als Simulation einer Netzwelt und das Netzmöbel ORBIT® (von Bigla AG) als erweiterte Lernumgebung für Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit oder als Rückzugsort.
- Die Netzwelten-Roadshow gastiert auch an der Pädagogischen Hochschule Luzern Standort Sentimatt.
- Am 3. Dezember 2025 findet dort zudem ein Workshop zu Schulraumgestaltung und bewegungsförderndem Lernen statt.
- Die Ausstellung zeigt zudem Ergebnisse der PH Luzern, darunter Leitlinien für zukunftsfähigen Schulbau, die in die Webplattform Schulraum entwickeln im Trialog einfliessen.
- Weitere Informationen unter PH Luzern / Wanderausstellung
Wie verändern Netzwelten das Verhältnis von traditionellen Lernorten (z. B. Klassenzimmer) und offenen Lernräumen?
KM: Netzwelten stellen einen offenen und multifunktionalen Lernraum dar, ein räumliches Angebot. Mit begehbaren Netzen kann bislang ungenutzter (Luft-)Raum im Schulhaus für schulische Aktivitäten zugänglich gemacht werden. Es sind insbesondere Lerncluster oder Gangzonen, die durch die Hängung von begehbaren Netzwelten erweitert und attraktiver gemacht werden können. Dadurch vergrössert sich an einer Schule das Spektrum an verschiedenartigen Arbeitsplätzen für unterschiedliche Lernende mit ihren je spezifischen Bedürfnissen. Netzwelten ist deshalb eine zusätzliche Option, um geöffneten oder offenen Unterricht umzusetzen. Netzwelten versteht sich nicht als Alternative zum Klassenzimmer, sondern als logische Ergänzung und Erweiterung. Unsere Netzwelten-Systemlösungen können ebenso im Aussenraum als Upgrade für den Pausenplatz und Aussen-Lernraum installiert werden.

Welche Rolle spielt die Beteiligung von Lernenden und Lehrpersonen bei der Entwicklung solcher Lernräume?
KM: Das ist eine sehr wichtige Rolle! Im Projekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» wurde von Anfang an partizipativ mit Schulklassen, Lehrpersonen und Schulleitenden zusammengearbeitet. In intensiven Projektwochen (Lernraum-Reallaboren unter der Leitung von Andreas Hammon) wurden die Ideen der Kinder erst mit Zeichnungen visualisiert, danach im 1:10-Modell gestaltet, diese Entwürfe diskutiert und geclustert. Einige Lösungen haben wir dann vor Ort in, der Schule, in einer 1:1-Installation umgesetzt, aufgebaut und mit den Schülerinnen und Schülern getestet. Aus den Ideen der Kinder entwickelte das Projektteam zusammen mit den Wirtschaftspartnern weitere Prototypen, die jetzt teilweise marktreif sind und serienmässig hergestellt werden. Das unmittelbare Feedback der Lernenden und Lehrpersonen ist absolut zentral, denn gemeinsam ist man einfach kreativer! Und wer weiss am besten Bescheid über das eigene Lernen, wenn nicht Schülerinnen, Schüler und Lehrpersonen?
Wie kann ein bestehender Schulbau an die Anforderungen von Netzwelten angepasst werden, ohne dass ein kompletter Neubau nötig ist?
AH: Netzwelten können in jedes Schulgebäude integriert werden - vom denkmalgeschützten Altbau, über die Vielzahl von Bestandsbauten bis hin zum Neubau. Als Update erweitern sie die räumliche Lernumgebung qualitativ als auch quantitativ.
Mit den begehbaren Seilnetzkonstruktionen können ergänzende Raumebenen von 3 m2 bis weit über 200 m2 in Bestandsbauten integriert werden. Hierfür eignen sich besonders hohe Räume ab 3 m mit ungenutzten Lufträumen, wie Erschliessungsflächen, Foyers, Flure und offene Lernzonen.
Die besonderen Material- und Formeigenschaften von Netzwelten ermöglichen Raumlösungen, die mit traditionellen Baumaterialien nicht realisierbar sind.
Der zusätzliche Raumgewinn durch Netzwelten ist auch wirtschaftlich interessant, da die Kosten bei etwa nur einem Drittel der aktuellen Baukosten pro m2 im Schulbau liegen.
KM: Die Installation Netzwelten entspricht der Europäischen Norm für Kinderspielplätze. Die Materialien sind schwer entflammbar, erfüllen die feuerpolizeilichen Anforderungen und können auch in Gangzonen installiert werden. Das ist ein grosses Bedürfnis in sehr vielen Schulen, da wir in vielen Schulhäusern über relativ grosszügige Verkehrsflächen verfügen – sind diese Gebäude doch früher für viel mehr Kinder pro Klasse gebaut worden.
Welche Herausforderungen entstehen bei der Umsetzung bewegungsorientierter Lernräume in Hinblick auf Sicherheit, Wartung oder Nutzung?
AH: Die Technik und das Material von Seilnetzkonstruktionen sind im Aussenbereich seit Jahrzehnten im Event- und Spielplatzbereich erprobt. Der Transfer in den Innenraum von Schulbauten ist hingegen neu und erfordert eine pädagogisch-räumliche Fachplanung, die die folgenden Anforderungen zusammenführt: Formfindung, Konstruktion, Statik, Genehmigung, Brandschutz, Sicherheit, Wartung und Pädagogik zu einem optimalen Kosten-Nutzen-Verhältnis verknüpft. In diese Planungen fliesst auch die Erfahrung des Sicherheits- und Netzexperten Thomas Ferwagner mit internationalen Grossprojekten ein. Neben den projektspezifischen Planungen gibt es bereits in seriengefertigte Modelle, wie beispielsweise ORBIT von Bigla AG oder WalkNet von Jakob AG.
Wie wirken sich Netzwelten Ihrer Erfahrung nach auf die Lernmotivation und Selbstständigkeit der Lernenden aus?
KM: Unsere Begleitstudie hat gezeigt, dass sich die unmittelbare Anfangsbegeisterung sehr rasch in eine stabile Akzeptanz für den neuen Lernraum entwickelte. Schülerinnen und Schüler haben sich gut organisieren können und die Netzwelt mit Kissen bequem eingerichtet. Arbeitsmaterialien werden in einer Box transportiert; der Umgang mit Büchern, Heften und I-Pads im Netz ist problemlos. Lernende sind durchaus fähig abzuschätzen, für welche Arbeiten sich welche Lernumgebung gut eignet. Sehr geschätzt wird das Netz als Ort für aktive Bewegungspausen für zwischendurch oder vor und nach dem Unterricht.

Welche Voraussetzungen benötigen Lehrpersonen, um Unterricht in Netzwelten aktiv und bewegungsorientiert zu gestalten?
KM: Die beste Voraussetzung ist Neugierde und Offenheit für eine innovative Lernumgebung. Wir haben aber schon gemerkt, dass Lehrpersonen vom Projektteam pädagogisch-didaktische Inputs benötigen, weil begehbare Netze in der Schule eine Novität ist. Niemand hat bislang Erfahrung damit. Wir gehen über die bekannten pädagogischen Konzepte der Bewegungsförderung wie bspw. «Purzelbaum»-Kindergarten oder «Bewegte Schule» hinaus. Unser (baulicher) Ansatz möchte Lernen in und mit dem Raum ermöglichen; im Fachjargon sprechen wir von «cognitive active learning». Kognitives Lernen wird nicht nur mit bewussten Bewegungspausen unterbrochen, sondern gezielt durch die räumliche Gestaltung bewegungsfreundlich gestaltet.
Eine weitere wichtige Voraussetzung ist die Bereitschaft einer Lehrperson, die (totale) Sicht-Kontrolle über eine Klasse zeitweise aufzugeben und dafür das Vertrauen und die Verantwortung für das eigene Lernen an die Schülerinnen und Schüler abzugeben. – Das ist nie in der Skalierung von «0» oder «100» gemeint, sondern immer graduell und für gewisse Sequenzen des Unterrichts. Es soll ja niemand überfordert werden. Eine Bereitschaft und den Mut, Formen des geöffneten oder offenen Unterrichts umzusetzen, ist auf jeden Fall hilfreich für Lehrpersonen.
Welche Rückmeldungen von Lernenden und Lehrpersonen erhalten Sie zu den Netzwelten?
KM: Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert! Waren es von Anfang an. Gewisse Lehrpersonen brauchten einige Zeit, um sich selber ins Netz zu getrauen. Es wird von Lehrerinnen und Lehrern angemerkt, dass nur schon die räumliche Nähe im Netz ein anderes Wahrnehmen und Miteinander auslöst. Man ist sich näher. Als interessant wird auch die Verschiebung von «oben» und «unten» wahrgenommen, denn es ist v.a. für Lehrpersonen eher ungewohnt, wenn sie plötzlich nach oben zu den Lernenden hin sprechen, weil diese über dem Kopf der Lehrperson arbeiten.
Wie sehen Sie die Zukunft solcher Lernräume?
AH: Netzwelten übersetzen wissenschaftliche Ergebnisse und die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu Lernen und Bewegung räumlich. Sie unterstützen die Zielsetzungen der Schul- und Unterrichtsentwicklung entsprechend dem Lehrplan 21.
Sie erweitern das bekannte Zitat: Form follows function zu Form follows Learning, Motivation and Movement. Netzwelten sind ein pädagogischer und zugleich wirtschaftlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der räumlichen Lernumgebung und des Schweizer Schulbaus.
KM: Die Schule der Zukunft wird baulich anders aussehen als heute: mehr offene, ungestaltete und multifunktionale Räume mit vielfältigen kleineren Lernnischen, Ateliers und Werkstätten. Die Idee, dass 20-25 Kinder gleichzeitig mit denselben Lernaufgaben lernen sollen, ist aufgrund der heterogenen Lernvoraussetzungen einfach nicht mehr zielführend. Deshalb braucht es auch innovative Lernräume, die den Bedürfnissen der Lernenden und der Schule von morgen gerecht werden.

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