Text: Kantonsarchäologie
Fotos: Kantonsarchäologie, Philipp Schmidli, Unterwasserarchäologie Zürich; Kibag AG, Emanuel Ammon/Aura
Vor 800 Jahren wurde die Stadt Luzern gegründet, ihre Geschichte jedoch ist älter: Archäologische Überreste in der Altstadt gehen bis ins 10. Jh. zurück, und das bei der Hofkirche gelegene frühere Kloster St. Leodegar erscheint in schriftlichen Quellen gar bereits im 8. Jahrhundert. Was aber war davor? Neue Funde im Luzerner Seebecken lassen die Stadt Luzern 2000 Jahre älter werden. Das sind bahnbrechende Erkenntnisse - und eine kleine Sensation.
Bislang zeugten nur einzelne verstreute Fundstücke aus der Stein- und Römerzeit davon, dass Luzern im frühen Mittelalter nicht «aus dem Nichts» entstanden ist, sondern auch die vorangehenden Epochen Teil ihrer Geschichte sein müssen. Bis vor kurzem fehlte es aber an Spuren, die eine Lokalisierung älterer Siedlungen ermöglicht hätten. Keine Mauer, kein Grab, nicht einmal die Pfostengrube eines Holzgebäudes: der "Stadtplan" zu Luzerns Frühgeschichte präsentierte sich als weisser Fleck – bis 2020.
100 Jahre erfolglose Suche
Dass der See nicht immer den heutigen Pegel aufgewiesen hat, ist seit langem bekannt. Auch die Suche nach prähistorischen Siedlungen im See ist nicht neu. Der Archäologiepionier Wilhelm Amrein machte sich in den 1920er-Jahren daran, das heutige Seeufer zu erkunden. Er erhoffte sich, Hinweise auf steinzeitliche Pfahlbausiedlungen zu finden – erfolglos. Selbst Tauchgänge ab den 1980er-Jahren blieben ohne Ergebnis: Eine undurchdringliche Schicht von Schlick überlagert den Seegrund, und nirgends im Seebecken ist auch nur eine Spur versunkener Siedlungen auszumachen.
Heute See, früher Land
Die Wende für das Verständnis der Prozesse, die zum heutigen Stadtbild führten, brachte 1998 die Baugrube für das Parkhaus Casino-Palace an der Haldenstrasse. Erstmals konnten hier alte Verlandungsschichten archäologisch dokumentiert und mit der C14-Methode datiert werden. Erkenntnis daraus: Von der Steinzeit bis ins Frühmittelalter stand der Seespiegel auf einer Höhe von etwa 428.50 m ü.M., rund fünf Meter tiefer als heute. Das heutige Seebecken lag also über Jahrtausende weitgehend trocken. Das Seeufer verlief etwa auf der Linie Verkehrshaus - Tribschen und bildete hinter dem Tribschenhorn eine kleine Bucht. Hier verliess die Reuss den See und querte das heutige Bahnhofsgelände. Die Entdeckung der Pfahlbauten vor Kehrsiten NW in fünf bis neun Meter Tiefe war 2003 für die Luzerner Archäologie mehr Bestätigung als Überraschung. Man war auf der richtigen Spur!
Land unter ab dem 7. Jahrhundert
Ab dem 7./8. Jahrhundert begann der Pegel des Vierwaldstättersees kontinuierlich zu steigen. Der Grund dafür war zunächst ein natürlicher: Der Krienbach brachte bei Unwettern grosse Mengen an Geröll und Geschiebe Richtung Reuss und engte den Seeausfluss zunehmend ein. Mit der allmählichen Überschwemmung des heutigen Seebeckens veränderte sich die ursprüngliche Siedlungslandschaft grundlegend. Die beim Kloster St. Leodegar im Hof entstandene Siedlung verlagerte sich auf den höher gelegenen Felsrücken der heutigen Altstadt. Die Hofkirche als Keimzelle der Stadt liegt deshalb heute nicht im Zentrum, sondern seltsam abseits.
Ab dem 9./10. Jahrhundert beschleunigte sich der Seespiegelanstieg durch den Eingriff des Menschen: Zur Nutzung der Wasserkraft wurde ein Stauwehr für die Mühlen errichtet, zudem wuchsen die Bauten der mittelalterlichen Stadt in die Reuss hinaus und schmälerten den Seeausfluss zusätzlich. Das heutige Niveau erreichte der See wohl im 15. Jahrhundert.
Eine Wasserleitung bringt den Durchbruch
2020 bot der Bau der Seewasserleitung für das See-Energiezentrum Inseliquai der ewl AG erstmals die Gelegenheit, einen unmittelbaren archäologischen Blick in die Verhältnisse des Seegrunds zu erhalten. Vom Dezember 2019 bis Mai 2020 arbeitete sich ein Schwimmbagger 1.1 Kilometer quer durch das Seebecken und schuf dabei einen 1.5 Meter tiefen Graben. Im Auftrag der Kantonsarchäologie wurden die Bauarbeiten durch die Tauchequipe der Unterwasserarchäologie der Stadt Zürich begleitet.
Im März 2020 hob der Bagger neben Schwemmsedimenten zahlreiche Holzpfähle aus dem Wasser. Den Taucharchäologen war schnell klar, dass es sich bei den künstlich zugerichteten Pfählen um prähistorische Bauhölzer handelt.
Dank der Feuchtbodenerhaltung sah das Holz aus, als wäre es erst vor wenigen Tagen gefällt worden.
Bescheidene Reste – enorme Bedeutung
Bald kamen nebst den erwähnten Bauhölzern auch erste Keramikscherben zum Vorschein. Der Leitungsgraben führt somit mitten durch ein Areal mit Resten von Pfahlbausiedlungen. Bis jetzt liegen Hinweise auf zwei separate Fundstellen vor: die eine an der ehemaligen Uferkante, die andere weiter landeinwärts. Die Datierung der Bauhölzer mit der C14-Methode und die Analyse der Keramik belegen die Datierung dieser Siedlungsreste in die späte Bronzezeit, in die Jahre um etwa 1000 v. Chr.
Mit dem Nachweis dieser 3000 Jahre alten Siedlung wird auch Luzern auf einen Schlag um rund 2000 älter, als dies bisher belegt werden konnte. Und nicht nur das: Luzern stellt sich damit in die Reihe bedeutender Städte wie Zürich oder Genf und belegt damit, dass auch in der heutigen Zentralschweiz die Lage am Ausfluss grosser Seen seit Urzeiten begehrt und der politischen wie wirtschaftlichen Entwicklung der Siedlungen förderlich war.
Eine Antwort, viele neue Fragen
Luzern hat also pünktlich zum 10-Jahr-Jubiläum des UNESCO-Welterbes "Pfahlbauten" eine Pfahlbausiedlung geschenkt erhalten. Diese Entdeckung ist bahnbrechend: Die Siedlungsgeschichte kann für den Raum der Stadt Luzern nun völlig neu geschrieben werden. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob sich im Seebecken Siedlungen aus vormittelalterlicher Zeit erhalten haben, sondern bloss noch, wo diese liegen.
Schnell werden die Rätsel um die Besiedlung des heutigen Seebeckens jedoch nicht gelüftet werden können, denn es bleibt dabei: Die archäologischen Reste liegen unsichtbar unter einer dicken Sedimentschicht verborgen. Doch die Kantonsarchäologie wird jede Gelegenheit nutzen, Antworten auf die vielen sich stellenden Fragen zu finden: Wo im Seebecken war einst gutes Siedlungsgelände vorhanden, wo war das Terrain sumpfig? Wo liegt die mit Streufunden belegte steinzeitliche, die römische und die frühmittelalterliche Siedlung? Wie wirkten sich die saisonalen Pegelschwankungen auf die Siedlungen aus? Gibt es im Bereich des früheren Seeufers prädestinierte Stellen für Schiffländen?
Fortsetzung folgt!
Weitere Informationen:
- Medienmitteilung Kantonsarchäologie vom 22. März 2021
- Website Denkmalpflege und Archäologie Kanton Luzern
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