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Projekt Verhalten: Was tun mit all den Auffälligkeiten?

Text: Marco Racheter, Schulevaluator und Leiter Projekt Verhalten der Dienststelle Volksschulbildung DVS

Fotos: DVS, pixabay 

Die Dienststelle Volksschulbildung lanciert ein Projekt zum Thema Verhaltensauffälligkeiten. Eine Evaluation der aktuellen Situation an den Schulen ist abgeschlossen, derzeit werden Unterstützungsmassnahmen und Lösungsansätze für den Schulalltag von einer «Denkfabrik» erarbeitet. Bis Ende Februar 2023 sollen die Vorschläge auf dem Tisch liegen.

Verhaltensauffälligkeit
Stillsitzen und Konzentration im Klassenzimmer: Hohe Anforderung an die Kinder und die Lehrpersonen.

Lisa ist laut und aufmüpfig. Sie zettelt ständig irgendwo Streit an und findet immer neue Verwendungsformen für Arbeitsgegenstände im Klassenzimmer. Neben ihr in der ersten Reihe sitzt Gianni. Ihm ist das alles zu viel: die Horde Kinder, die Matheaufgaben und insbesondere der Sportunterricht. Lieber zieht er sich zurück, wartet bis der Albtraum zu Ende ist und er nach Hause gehen darf. Mit den beiden im Klassenzimmer sitzen auch noch Olivia, Selim, Ronny und Alma. Sie haben ADHS, traumatische Erfahrungen auf der Flucht gemacht, haben unsicheren Beziehungs- oder Bindungserfahrungen im frühen Kindheitsalter erlebt oder sind äusserst angepasst. Alle diese Kinder sollen sich gesund entwickeln, aber vor allem viel lernen und später einen möglichst gut bezahlten Job haben. Dass diese Vielfalt an Charakteren und Erwartungen mitunter zu Überforderung im Schulsystem führt, ist nachvollziehbar. Hier setzt das Projekt Verhalten an: Was tun mit all den Verhaltensauffälligkeiten? Mit nachhaltigen und umsetzbaren Lösungen soll allen Kindern eine erfüllte Schulzeit ermöglicht werden. Zugleich sollen die Mitarbeitenden an den Schulen vor einem Burn-out bewahrt werden.

Auffälliges Verhalten: Unter- oder Überforderung

Verhalten ist erst einmal nichts Aussergewöhnliches. Im Gegenteil - es ist nicht möglich, sich nicht zu verhalten. Stehen die Anforderungen im Einklang mit den Möglichkeiten eines Menschen, so fühlt er sich sicher und kompetent und meistert das Ereignis gekonnt und mit wenig Energieaufwand. Ist ein Individuum überfordert mit einer Situation, so greift es auf basale Verhaltensmuster zurück: es erstarrt, flieht oder greift an. In der Schule kann sich das äussern als Herumrennen im Schulzimmer, Zerreissen von Blättern, nach Hause rennen, andere schlagen, einsperren etc. Diese und ähnliche Verhaltensweisen sind Ausdruck einer Über- oder Unterforderung und werden umgangssprachlich als auffällig bezeichnet. Solche Verhaltensweisen sind aber auch stets der Versuch, eine subjektiv herausfordernde Situation zu meistern. 

Gründe für auffälliges Verhalten können im Kind liegen. Sie sind vielleicht emotional zu wenig reif oder haben Wahrnehmungsschwierigkeiten. Sie können ihren Ursprung aber auch in den Beziehungen haben – beispielweise eine zu grosse Gruppe, eine Reaktion der Lehrperson, ein unsicherer Platz in der Gemeinschaft, Gruppendynamik. Oder aber in den Anforderungen – langweilige Lerninhalte, enge räumliche Verhältnisse, unverständliche Sachverhalte.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nur verständlich, dass für die Problematik keine einfachen Lösungen gefunden werden können.

Schwieriger Zugang: Überforderung, Rückzug, Verweigerung.
Schwieriger Zugang: Überforderung, Rückzug, Verweigerung.

Analyse der Situation in den Luzerner Schulen

Im Rahmen des Projekts Verhalten wurde in den letzten Monaten die aktuelle Situation an den Luzerner Schulen analysiert. Lehrpersonen aller Stufen und weitere involvierte Stellen hatten Gelegenheit, ihre Erfahrungen zu schildern. Mit dem Abschluss dieser Analysephase zeigen sich einige Leitlinien, die bei der Lösungssuche weiterverfolgt werden können.

Verhaltensauffälligkeiten Verhalten
Projekt Verhalten: Skizze mit dem komplexen Umfeld für Ursachen, Betroffene und Unterstützungsmöglichkeiten.

Es fällt auf, dass sich die Anforderungen an die Schule ganz allgemein verschoben zu haben scheinen und das System darauf noch zu wenig passende Antworten liefern kann. Insbesondere scheint die soziale und gesellschaftliche Funktion der Schule immer wichtiger zu werden, während gleichzeitig immer mehr Anforderungen an die Wissensvermittlung gestellt werden. Die Schule reagiert darauf momentan mit immer ausgeklügelteren Systemen zur Vermittlung von Lerninhalten und schafft Zusatzangebote für Lernende, welche diese Anforderungen nicht meistern können.

Schulsozialarbeit, frühe (Sprach-)förderung, Schulinsel, Hausaufgabenhilfe, aber auch Begabtenförderung oder Verhaltenstrainings sind Ausdruck dieser Zerrissenheit. Alle diese Angebote haben ihre Berechtigung. Um auffälliges Verhalten in den Griff zu bekommen, müssen sie jedoch besser in den regulären Schulunterricht eingebunden werden. Denn die Vernetzung verschiedener Akteure im Beziehungsumfeld der Lernenden lohnt sich. Ein solches Netz trägt die Kinder mit all ihren Besonderheiten. Und durch die Förderung von personalen und sozialen Kompetenzen und einer stabilen Beziehung wird Lernen erst möglich.

Nächste Phase: Lösungen finden

In der im Rahmen des Projekts Verhalten erfolgten Analyse zeigt sich, dass viel Wissen an den Schulen, den schulischen Diensten und Sonderschulen vorhanden ist. Unterstützungs- und Beratungsleistungen werden gewinnbringend erlebt und niederschwellige Angebote der Schulen zur Unterstützung der Gemeinschaft sowie von einzelnen Lernenden funktionieren. In der Phase der Lösungsfindung gilt es nun zu definieren, wie die vorhandenen Stärken genutzt und Schwierigkeiten vermindert werden können. Bis Ende Januar wird sich eine «Denkfabrik» mit dieser Aufgabe befassen und in sogenannten Beratungskonferenzen regelmässig Feedback von allen Anspruchsgruppen einholen. Erkenntnisse aus diesen Feedbackrunden können wiederum in die weitere Arbeit an Lösungsvorschlägen einfliessen. Bis Ende Februar 2023 wird die Geschäftsleitung der Dienststelle Volksschulbildung über die Vorschläge befinden und damit den weiteren Weg in der Umsetzung definieren.

 

So kann Lisa ihre Energie und ihr Wissen künftig noch produktiver einsetzen, Gianni und Ronny finden ein Umfeld in dem sie sich sicher und akzeptiert fühlen. OIivia und Selim erhalten Unterstützung im Umgang mit ihren Einschränkungen und Erlebnissen und auch Alma als Vertreterin der rund achtzig Prozent von Lernenden ohne besonderen Förderbedarf im Verhalten erhält die nötige Aufmerksamkeit, die sie für eine gesunde Entwicklung und zum Löschen ihres Wissensdurstes braucht.

Weiterlesen:

Website Dienststelle Volksschulbildung: Projekt Verhalten 


Kommentare: 2
  • #2

    Kimon Blos (Donnerstag, 10 November 2022 09:28)

    Der nämliche Satz scheint mir bewusst provozierend gewählt, um darauf hinzuweisen, dass sich das Projekt nicht isoliert auf die sich verhaltenden SuS fokussieren kann, ohne nicht auch die Bedingungen (Personen, explizite und implizite Zielvorstellungen) in Augenschein zu nehmen, zu denen sie sich verhalten. Ein Grossteil des Aufbegehrens resultiert vermutlich aus der andauernden Maxime, durch vielfältige Sondermassnahmen eine unrealistische Homogenität zu gewährleisten. In der Anerkennung der Heterogenität läge die Chance, dass sich Schule als individuelle (und wertneutrale) Profilberaterin verstehen dürfte.

  • #1

    Bieri Silvan (Dienstag, 25 Oktober 2022)

    "Alle diese Kinder sollen sich gesund entwickeln, aber vor allem viel lernen und später einen möglichst gut bezahlten Job haben."

    Danke für den Beitrag. Ich sehe viele Aspekte auch so. Dieser Satz ist mir aber ein Dorn im Auge. Geht es in der Schulbildung wirklich darum, einen gut bezahlten Job zu ergattern? Wie ist es mit den Kindern, welche diese Anforderungen nicht erfüllen können? Geht es nicht viel mehr darum, seine eigenen Stärken und Schwächen zu kennen und diese im Alltag sinnstiftend und glückbringend einzusetzen?
    Meiner Meinung nach sind dafür die im Text erwähnten Netze da.