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Psychische Gesundheit: Wie geht es den Luzerner Schülern & Schülerinnen?

Text/Interview: Vera Bergen

Zwei von fünf Menschen in der Schweiz sind stark psychisch belastet. Zu diesem Schluss kommen diverse Studien. Auch viele Jugendliche geben an, hoch oder sehr hoch belastet zu sein, was auch Eltern und Schulen umtreibt. Die psychische Gesundheit der Luzerner Schülerinnen und Schülern ist darum Thema am «Tag der Luzerner Mittelschullehrpersonen» TLM. Ein Gespräch mit der TLM-Referentin und Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli über Warnzeichen, die Rolle von Lehrpersonen und Social Media.

Porträt der Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli.
Dagmar Pauli beschäftigt sich täglich mit der Psyche von Kindern und Jugendlichen. (Bild: IPKJ)

Dagmar Pauli, Sie sind Chefärztin und stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Inwiefern können Sie diese Aussagen der Studien stützen? Zeigt sich Ihnen ein ähnliches Bild in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Ich kann das bestätigen: Wir sehen in unserer Klinik immer mehr belastete Jugendliche. Unsere Ambulatorien haben Wartefristen von mehreren Monaten. Immer mehr junge Menschen benötigen Hilfe durch psychiatrische und psychologische Fachpersonen, weil sie nicht mehr klar kommen.

Es ist oft die Rede von «psychischen Belastungen» - diese sind jedoch sehr individuell. Was für Krankheitsbilder zeigen sich Ihnen aktuell an der Psychiatrischen Universitätsklinik? 

Die Notfallanmeldungen nehmen zu. Besonders angestiegen sind Depressionen, Selbstverletzungen, Suizidalität, aber auch Angststörungen und Essstörungen. Es sind eigentlich nicht neue Krankheitsbilder, sondern eher neue Ausprägungen. Depressive Verstimmungen und Ängste beziehen sich heute sehr stark auf Überforderung mit den Ansprüchen aller Art: In der Schule nicht mehr alles bewältigen zu können, zu wenig Zeit für alles zu haben, den eigenen Ansprüchen oder denen des Umfelds nicht gerecht zu werden. Viele der Störungsbilder, die aktuell im Zunehmen begriffen sind, richten sich nach innen: Selbstverletzungen oder Essstörungen richten sich gegen den Körper. Angststörungen führen zu Rückzug aus den sozialen Zusammenhängen. Es hat auch damit zu tun, dass immer mehr und immer jüngere Kinder sehr viel Zeit in den sozialen Medien verbringen. Auch dort sind sie mit Ansprüchen konfrontiert, denen sie sich nicht gewachsen sehen. Sie vergleichen sich mit Vorbildern, denen es immer gut zu gehen scheint. Und es werden dysfunktionale Lösungen angeboten:  Sich selbst zu verletzen, übertriebene Diäten zu machen oder Panikattacken zu haben, sind Verhaltensweisen, die zu einem Rückzug aus dem normalen Leben und zu einer Fokussierung auf sich selbst führen.

Die psychische Gesundheit von Kindern &  Jugendlichen ist während der Corona-Pandemie stärker in den Fokus geraten. (Symbolbild: Canva)
Die psychische Gesundheit von Kindern & Jugendlichen ist während der Corona-Pandemie stärker in den Fokus geraten. (Symbolbild: Canva)

Jegliche Studien und Befragungen kommen aktuell zum selben Schluss: «Psychische Erkrankungen sind auf einem Rekordhoch». Worauf führen Sie dies zurück? Was sind mögliche Gründe dafür? 

Dieser Trend hat schon vor der Corona-Pandemie begonnen und wurde durch diese akzentuiert. Jugendliche fühlen sich immer stärker belastet und sehen sich immer weniger dazu in der Lage, die Hürden des Lebens zu meistern. Die gesellschaftlichen Ansprüche nehmen zu, das zeigt sich überall, in Familie und Schule: Nur was perfekt ist, ist gut genug. Wir müssen uns auch mal beschränken, nicht immer nur Ansprüche dazunehmen, auch mal etwas abbauen z.B. im Schulstoff oder im Qualitätsmanagement. Weniger wäre mehr.

 

Die Menschen sind immer stärker mit immer mehr Informationen konfrontiert auf verschiedenen Kanälen, die sie nicht alle verarbeiten können. Das überfordert auch die Jugendlichen. Zeit für Reflexion oder zum Nichtstun gibt es kaum noch. Gleichzeitig wachsen viele Kinder und Jugendliche in einem Umfeld auf, das zu wenig Vertrauen in sie hat. Schwierigkeiten dürfen sie nicht selbst bewältigen, sie werden ihnen aus dem Weg geräumt. Sie erhalten zu wenig Unterstützung in Problemlösungsstrategien. 

Sie haben die Corona-Pandemie bereits erwähnt. Inwiefern spielen die Pandemie und die unsichere Weltlage generell eine Rolle beim Anstieg der psychischen Erkrankungen? 

In der Corona-Pandemie sind einige junge Menschen auf der Strecke geblieben. Sie kamen nicht zurecht mit dem Online-Unterricht und den Lockdowns. Sie verpassten viele wichtige Erfahrungen. Viele haben es sehr gut bewältigt, aber nicht alle. Es gab überdurchschnittlich viele, die es nachher nicht mehr geschafft haben, in die Schule zu gehen. Schulabsentismus aus psychischen Gründen hat zugenommen. Auch junge Studierende hatten Mühe, es kam zu Studienabbrüchen. Zudem wurden noch mehr soziale Medien von den jungen Menschen genutzt und manche blieben daran hängen. Die Algorithmen der Plattformen wie TikTok führen dazu, dass ein belastendes Thema, das die Jugendlichen anklicken, ihnen immer wieder präsentiert wird. Einige haben sich darin verloren und wurden psychisch krank.

Inwiefern ist es ein struktureller Trend?

Ein struktureller Trend ist die Zunahme an Informationen und Ansprüchen in unserer modernen Welt. Die Veränderung geht so schnell, dass wir uns nicht anpassen können. Wir haben noch keinen Weg gefunden, unsere psychische Gesundheit und unsere Musse zu schützen. Auch für Erwachsene ist es zum Beispiel sehr schwer geworden, Ferien arbeitsfrei zu geniessen und sich aus den Arbeitszusammenhängen zu lösen, weil alle überall und immer erreichbar sein müssen und sich sonst Informationen z.B. in Form von E-Mails anhäufen, die wir für wichtig halten und nicht bearbeiten können. 

Die Adoleszenz ist für Jugendliche per se eine herausfordernde Zeit – haben sich die Herausforderungen, die Jugendliche in dieser Zeit meistern müssen, in den letzten Jahrzehnten durch äussere Einflüsse noch verstärkt? Wenn ja, warum?

Adoleszenz heisst heute auch Abgrenzung. Wie können junge Menschen sich gegen überbordende Anforderungen (sei es in Schule oder sozialen Medien oder Familie) abgrenzen und herausfinden, was sie selbst wollen und was nicht. Die Frage der Körperakzeptanz hat sich zunehmend akzentuiert: Studien zeigen, dass immer weniger Jugendliche mit ihrem Körper zufrieden sind. Sie müssen sich auch gegen die Bilderflut perfekter Körper abgrenzen, die sich ihnen schon ab dem Alter von 10-11 Jahren mit dem eigenen Smartphone andauernd aufdrängen. Zudem ist die Frage der Geschlechtsidentität dazu gekommen, die viele beschäftigt.

social Media Körperbild Fragen Verbildlichung
Konstant prasselt das volle Leben auf die Kinder und Jugendlichen ein - Abgrenzung ist wichtig aber nicht leicht. (Symbolbild Pixabay)

In dieser herausfordernden Zeit des Erwachsenwerdens sind die Jugendlichen in der Ausbildung. Was können Schulen tun, um Jugendliche während dieser Zeit zu unterstützen mit Fokus auf der psychischen Gesundheit? 

Die Schule muss erkennen, dass sie Gegensteuer geben muss. Zeit ist ein wichtiger Faktor: Sind die Anforderungen angemessen oder sind sie nur zu bewältigen, wenn die gesamte Zeit der Jugendlichen dafür verbraucht wird? Sind alle Sinne und alle Qualitäten der Jugendlichen in der Schule angesprochen? Es geht nicht nur um Früherkennung psychischer Probleme. Denn das ist ein Fass ohne Boden. Es geht auch darum, dass die Schule reflektieren muss, inwiefern sie selbst Teil des Problems ist, also die psychischen Probleme der Lernenden verstärkt.

Gibt es Anzeichen, die erkennen lassen, dass es einem Jugendlichen nicht gut geht beziehungsweise die psychische Gesundheit leidet?

Frühwarnzeichen sind sozialer Rückzug, Anspannung und Müdigkeit. Wenn Schüler und Schülerinnen nur noch lernen und von den Aufgaben sprechen, ihre Hobbys vernachlässigen oder gar nicht mehr regelmässig in die Schule kommen können. Selbstverletzungen und suizidale Äusserungen sind selbstverständlich Alarmzeichen, die man immer ernst nehmen muss, aber auch ein plötzlicher Gewichtsverlust, der sichtbar ist.

Inwiefern können Schulen noch mehr für die psychische Gesundheit der Jugendlichen tun? 

Themen wie Körper, Bewegung, Medienkritik, Problemlösungsstrategien, Mindfulness und Achtsamkeit, Lern- und Pausenstrategien müssten Teil des Unterrichts sein. Zeiträume für Reflexion müssen geschaffen werden. Der Unterrichtsstoff sollte entschlackt werden, damit Zeit frei wird. Die Schule ist Teil der Problems und darf sich nicht darauf beschränken, Früherkennung für Jugendliche in Krisen zu machen. Sie muss auch dazu beitragen, dass weniger Krisen und Überforderung entstehen.

Lehrpersonen sind für Schülerinnen und Schüler auch wichtige Bezugspersonen. (Symbolbild: Pexels / Pixabay)
Lehrpersonen sind für Schülerinnen und Schüler auch wichtige Bezugspersonen. (Symbolbild: Pexels / Pixabay)

Welche Rolle spielen dabei die Lehrpersonen?

Lehrpersonen sind wichtige Bezugspersonen. Sie müssen vorleben, dass Leistung etwas Tolles ist und dass man Forderungen stellen kann; aber auch, dass Leistungsfähigkeit Grenzen hat und dass Musse und Spass wichtig sind für die Lebensqualität. Eine Studie von Pro Juventute zeigte 2021, dass im Stresserleben der Schüler und Schülerinnen die Meinung der Lehrperson über die Klasse eine grosse Rolle spielt: In den Schulklassen, in denen die Lehrpersonen eine gute Meinung über die Klasse hat, war der Stresspegel deutlich niedriger. Das zeigt, in welche Richtung wir gehen müssen.

Wie können Eltern und Erziehungsberechtigte, Jugendliche während dieser Zeit unterstützen?

Es ist wichtig, immer im Gespräch zu bleiben und nachzufragen: Wie geht es dir, was beschäftigt dich, warum machst du das so und so? Man soll auch vorleben, dass man sich nicht immer verausgaben muss, nicht immer perfekt sein muss. Weniger ist mehr. Die Ansprüche sollten den Ressourcen angepasst werden; umgekehrt geht es nicht.

2022 haben in der Schweiz Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen ein Rekordhoch erreicht. Was können Schulen tun, um die Jugendliche während ihrer Ausbildung auf das Arbeitsleben und ihre psychische Gesundheit vorzubereiten?

Auch hier ist Abgrenzung ein wichtiges Thema: Wie merke ich rechtzeitig, wenn es mir zu viel wird? Was kann ich von mir und von anderen verlangen? Es ist nicht einfach die Schule, es ist die Gesellschaft: wenn wir nicht innehalten, werden wir uns selbst ins Burnout bringen. 


Mehr zum Tag der Luzerner Mittelschullehrpersonen mit dem Thema «Psychische Belastung in der Adoleszenz» finden Sie hier: 

Download
Flyer TLM
Flyer_TLM_Tag_Februar_2023.pdf
Adobe Acrobat Dokument 2.0 MB

Im Kanton Luzern hilft die Fachstelle Psychologische Beratung Berufsbildung und Gymnasium Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die eine Berufsfach- oder Mittelschule besuchen, kostenlos weiter.  Auch Erziehungsberechtigte, Ausbildungsverantwortliche, Lehrpersonen und Schulleitungen können sich an die Fachstelle wenden. 

Geht es dir oder jemandem, den du kennst, nicht gut?

Auch hier findest du Hilfe:

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Angst- und Panikhilfe Schweiz, Tel. 0848 801 109


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