Interview: Gabi Mischkale, Blog-Redaktion; Bilder: zVg.
Sie sind zwischen 20 und 55, berufstätig und haben Familien. Jetzt aber besuchen sie wieder die Schule. Fast 200 Erwachsene wollen für sich neue Perspektiven und holen die Matura an der Maturitätsschule für Erwachsene MSE nach. Der Weg dahin ist kein einfacher: Es gibt Prüfungen, Zeitdruck und Lernen nach der Arbeit und am Wochenende. Absolventin Jenny De Biasio will die Anstrengungen an der MSE dennoch nicht missen. Und Schulleiter Luigi Brovelli ordnet das Angebot für Spätentschlossene ein.
Während jede fünfte junge Person im Kanton Luzern eine Kanti besucht und im Alter von 18 bis 20 Jahren auf dem ersten Bildungsweg die Matura schafft, ist es bei den Besuchenden der MSE anders. Ihre Lebensläufe sind von Neuanfängen, Umwegen oder manchmal auch Brüchen geprägt. Sie starten als Elektrozeichner, Kaufmann, Drogistin oder junge Mutter mit Sekundarschulabschluss und werden Astrophysiker, Gymnasiallehrpersonen oder Kulturwissenschaftlerin (siehe auch MSE – Stimmen von Ehemaligen).

Rund 200 Erwachsene in der Zentralschweiz wählen jährlich die Matura auf dem zweiten Bildungsweg oder die Passerelle nach der Berufs- oder Fachmatura. Seit 35 Jahren trägt die Maturitätsschule für Erwachsene im Kanton Luzern zur Durchlässigkeit im Bildungssystem bei.
Warum aber entscheiden sich Erwachsene für die Matura auf dem zweiten Bildungsweg? Welche Hindernisse gilt es zu überwinden? Und lohnt sich der ganze Einsatz wirklich?
Jenny De Biasio startet mit 24 Jahren den 3,5-jährigen Matura-Lehrgang. Sie ist damals junge Mutter mit einem Sekundarabschluss und will die Zeit der Mutterschaft nutzen, um die Matura nachholen. Auf die MSE kam sie über den Bekanntenkreis.
Jenny De Biasio besuchte schon als Jugendliche das reguläre Gymnasium, doch es lief nicht, sie brach ab und jobbte. Ganz anders dann später an der MSE: «Ich hatte ein Ziel vor Augen. Das Lernen hat grosse Freude gemacht und ich merkte – das kann ich echt. Und die Begegnung mit den Lehrpersonen war eine andere – auf Augenhöhe. Es war sehr intensiv, doch Aufhören kam nicht in Frage», erzählt sie mit fröhlicher dynamischer Stimme.

Die Ausbildungszeit von 3,5 Jahren bis zur Matura finanziert sie über ein Stipendium. Die umfangreiche Hilfe und Unterstützung ihrer Eltern kommt hinzu. Ohne das wäre es nicht gegangen, ist sich De Biasio sicher.
Heute, rund 8 Jahre später, studiert sie Kulturwissenschaften und Geschichte an der Universität Luzern im Master. Die Art und Weise, wie sie neue Inhalte bewältigt, habe sie an der MSE gelernt – selbständig zu lernen, kritisch zu überprüfen, den Fokus zu legen und auch viel Inhalt in wenig Zeit zu packen. Als sie das Studium an der Uni begann, merkte sie, dass sie das Handwerkzeug mitbringt und auf ihren Kompetenzen aufbauen kann. Die allermeisten aus ihrem Lehrgang an der MSE haben auch nach der Matura erfolgreich studiert.
«Die MSE ist ein tolles Format, das auch viel später im Berufsleben die Bildungsmobilität ermöglicht», ist Jenny De Biasio überzeugt.
Maturitätsschule für Erwachsene MSE im Kanton Luzern
- 1990 startete die erste Klasse mit 20 Personen mit dem Gymnasialen Lehrgang, damals noch an der Kantonsschule Alpenquai. Abschluss: Maturitätszeugnis.
- 2005 kam das Angebot der Passerelle dazu: Berufstätige mit praktischer Erfahrung und einer Berufsmatura absolvieren in einem Jahr ein Vollzeitstudium, um die Ergänzungsprüfungen abzulegen.
- Seit 2017 dürfen auch Personen mit Fachmatura am Passerellen-Studium teilnehmen. Das Interesse an der Passerelle steigt, sodass bis zu 150 Personen jährlich den Lehrgang besuchen. Das Zeugnis der Ergänzungsprüfung zusammen mit dem Zeugnis der Fach- od. Berufsmatura berechtigen zum Studium an einer Universität oder der ETH.

Im aktuellen Schuljahr 2024/25 studieren 195 Personen in 11 Klassen an der MSE – 140 Personen absolvieren den Passerellen-Lehrgang, 55 die gymnasiale Matura. Luigi Brovelli, promovierter Naturwissenschaftler, langjähriger Physiklehrer und Prorektor an der Kanti Reussbühl, leitet die MSE seit 2021. Nach einer umfangreichen Evaluation durch das Schweizerische Zentrum für die Mittelschule und für Schulevaluation auf der Sekundarstufe II (ZEM CES) erhielt die Schule Anfang 2025 das Qualitätslabel Q2E-Master. Brovelli geht auf die Besonderheiten der MSE ein.

Luigi Brovelli, welche Rolle spielt die MSE in der Luzerner Bildungslandschaft?
In der Schweiz fällt die Entscheidung zwischen gymnasialer und beruflicher Bildung in einem sehr frühen Alter. Dabei spielt das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle: Kinder aus akademischen Haushalten besuchen signifikant häufiger ein Gymnasium als Kinder ohne akademische Familiengeschichte. Das allein ist kein Mangel, denn die berufliche Grundbildung – insbesondere in Kombination mit einer Berufsmaturität – eröffnet vielfältige und anspruchsvolle Karrierewege.
Gleichzeitig rückt in Bildungspolitik und Gesellschaft die Frage nach Chancengerechtigkeit und Durchlässigkeit im Bildungssystem immer stärker in den Fokus. Hier leistet die MSE einen zentralen Beitrag: Sie ermöglicht Menschen, die sich später im Leben neu orientieren oder akademisch weiterbilden möchten, den Zugang zur universitären Bildung.
Gerade in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels – etwa in den Bereichen Bildung oder Technik – ist es essenziell, dass wir Bildungswege anbieten, die heterogene Lebensläufe ermöglichen und Talente unabhängig vom ursprünglichen Bildungsentscheid fördern. Die MSE erfüllt diese Funktion nicht nur in Luzern, sondern für die ganze Zentralschweiz. Da ein Grossteil der MSE-Studierenden aus nicht-akademischen Haushalten stammt, lindert sie ein Stück weit die soziale Selektivität der Gymnasien.

Worin besteht der Unterschied zwischen der regulären Matura und der Erwachsenen-Matura? Sind auch die Lehrpersonen anders gefordert?
Die Erwachsenen-Matura dauert berufsbegleitend dreieinhalb Jahre im Gegensatz zu den regulären vier Jahren am Ober- bzw. Kurzzeitgymnasium in Vollzeit. Die erwachsenen Lernenden nehmen wöchentlich an 13 bis 16 Lektionen an der MSE teil, während der übrige Teil durch Selbststudium abgedeckt wird. Parallel zur Schule arbeiten manche zum Teil in einem Pensum von bis zu 50 Prozent.
Für die Lehrkräfte ergeben sich daraus andere Anforderungen an den Unterricht, z.B. eine straffe Planung, eine maximale Effizienz sowie eine Unterrichtsgestaltung, die auf das Selbststudium abgestimmt sein muss.

Der Gymnasiale Lehrgang ist vom Umfang her ein komplettes «kleines Gymnasium». Er umfasst Prüfungen, Jahreszeugnisse, eine Maturaarbeit sowie Schwerpunkt- und Ergänzungsfächer. Er führt zu den hausinternen, eidgenössisch anerkannten Maturitätsprüfungen.

Wie verhält es sich mit der Passerelle?
Die Passerelle für Personen mit Berufs- oder Fachmaturität ist noch intensiver. Hier wird der Stoff von zwei Jahren Gymnasium in einem Jahr Vollzeitstudium durchgenommen. Es gibt keine Erfahrungsnoten, am Ende zählen nur die Abschlussprüfungen - die Ergänzungsprüfungen. Die bestandenen Ergänzungsprüfungen zusammen mit dem Berufsmatura- oder Fachmatura-Zeugnis sind in der Schweiz äquivalent zu einer Gymnasialen Maturität.
Vor zwei Jahren bestätigte Prof. Dr. Franz Eberle, Emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik, dass die Absolventinnen und Absolventen der Passerelle an den Universitäten ähnlich erfolgreich sind wie Studierende mit einer gymnasialen Maturität (s. Studie)
Also ein Jahr Vollzeit oder 3,5 Jahre berufsbegleitend?
Es gibt noch die Möglichkeit des Quereinstiegs – etwa von Personen mit Berufs- oder Fachmatura oder mit einem Fachmittelschulausweis – in ein höheres Semester des Gymnasialen Lehrgangs. Das ist eine durchaus attraktive Alternative zur Passerelle und hat mehrere Vorteile: International anerkannte Gymnasiale Maturität, etwas mehr «geführte Schule» mit einem aber immer noch hohen Anteil an Selbststudium, Vereinbarkeit des Studiums mit bis zu 50% Erwerbs- oder Familienarbeit.
Der Quereinstieg ist nach Absprache und je nach Vorkenntnissen bis ins 3. Semester möglich. Dann dauert der Lehrgang bis zur Matura nur noch zwei Jahre (statt einem Jahr Passerelle). Es ist aber notwendig, sich selbstständig auf den Quereinstieg vorzubereiten und mögliche Stofflücken zu schliessen. Dazu bieten wir online Materialien an sowie Tests, mit denen eine Selbsteinschätzung möglich ist. In naher Zukunft werden wir auch gezielte Stützkurse im Sommer, vor Beginn des 3. Semester, anbieten.
Der MSE wurde das Q2E-Qualitätszertifikat «Q2E-Master» verliehen. Was ist das genau?
Q2E ist ein Orientierungsmodell für den Aufbau und die Weiterentwicklung eines ganzheitlichen Qualitätsmanagements an Schulen und anderen Bildungsinstitutionen. Es stellt den Referenzrahmen für das Qualitätssystem der Luzerner Gymnasien dar. Alle fünf bis sechs Jahre werden die Gymnasien extern durch das «Schweizerische Zentrum für die Mittelschulen» (ZEM CES) evaluiert - so auch die MSE im letzten Jahr. Nach dem sehr positiven Evaluationsbericht, der nicht nur das Qualitätsmanagement selber, sondern vor allem auch die erlebte Unterrichtsqualität und die Zufriedenheit aller Schulangehörigen in zahlreichen online- und vor-Ort-Befragungen untersucht hat, haben wir uns entschlossen, einen Schritt weiterzugehen. Nach einem eintägigen Zertifizierungs-Audit durch die SGS erhielten wir das Label «Q2E-Master» - die höchstmögliche Stufe. Damit ist die MSE eine von rund 20 Q2E-zertifizierten Schulen in der Schweiz.
Bei Informationsanlässen hilft ein solches Qualitätslabel sehr. Zudem werden wir oft durch Internet-Recherchen gefunden. Auch hier macht sich eine unabhängige Bestätigung unserer Qualität gut. Und es ist auch einfach schön zu sehen, dass die hervorragende Qualität der Arbeit, welche die Lehrpersonen und die Mitarbeitenden an der MSE täglich leisten, von extern gewürdigt worden ist.

Menschen aus der ganzen Zentralschweiz finden den Weg an die MSE. Seit der Gründung haben sich die Abschlussquoten verfünffacht.
Die Anzahl der jährlichen Abschlüsse ist deutlich angestiegen, weil immer mehr Studierende die einjährige Passerelle abschliessen. Dagegen war die Anzahl der Studierenden im Gymnasialen Lehrgang rückläufig und bleibt jetzt stabil auf tiefem Niveau. Die Studierendenzahl ist gesamthaft aber einigermassen konstant bei 160 bis 200 Personen geblieben, da die Studierenden des Gymnasialen Lehrgangs 3.5 Jahre an der Schule verweilen.
Kommentar schreiben