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Interkultureller Dialog: Indigene Gäste aus Kanada teilen ihre Geschichte(n) mit 270 Schülern und Schülerinnen

Es war mehr als ein Workshop, den Schulklassen aus den Kantonen Luzern und Aargau im November 2023 im Rahmen der Sonderausstellung «Aski-Land. Indigene Stimmen aus Kanada» erlebten. Das Besondere am Workshop, der von der Pädagogischen Hochschule Luzern entwickelt wurde, war der direkte Dialog mit indigenen Gästen aus Kanada im Haus zum Dolder in Beromünster.

Jasmin Gerig (oben) und Angela Müller haben den Workshop zusammen entwickelt.
Jasmin Gerig (oben) und Angela Müller haben den Workshop zusammen entwickelt.

Es ist nicht ganz einfach mit Indigenen aus Kanada einen Workshop für Schweizer Schulklassen zu indigener Geschichte auszuarbeiten. Besonders dann nicht, wenn später ein Grossteil des Workshops der Dialog zwischen den Indigenen und den Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufen I und II ausmachen sollte.

 

Gemäss dem Motto «nichts über uns, ohne uns», war es uns von Anfang an wichtig, unsere künftigen Gäste aus Kanada in das Vermittlungsprojekt miteinzubeziehen. Nicht nur die räumliche Distanz und die Zeitverschiebung brachten die Ausarbeitung der Themenschwerpunkte immer wieder ins Stocken, sondern auch unsere eigenen Unsicherheiten. Wie begegnen wir einander? Was erwarten wir voneinander?

Rita May Fenton (Ojibwe Nation) und Louise Thomas (Cree Nation) mit einem Teil der Klasse der Kreisschule Entfelden. (Bild: Jasmin Gerig)
Rita May Fenton (Ojibwe Nation) und Louise Thomas (Cree Nation) mit einem Teil der Klasse der Kreisschule Entfelden. (Bild: Jasmin Gerig)

Nicht nur diese Fragen beschäftigten uns im Vorfeld. Auch fragten wir uns, wie wir allfällige Sprachbarrieren überbrücken oder welche Hilfestellungen wir anbieten können, falls die Schülerinnen und Schüler nicht mit den indigenen Gästen ins Gespräch kommen. Wir dachten auch intensiv darüber nach, wie wir im Workshop verhindern, bestehende Stereotypen und Klischees zu reproduzieren oder gar zu schüren. Mit beidem wollten wir nämlich im Workshop aufräumen – dies war ein wichtiges gemeinsames Ziel. Einig waren wir uns auch darin, einen Raum zu schaffen, in dem gegenseitiger Respekt, Toleranz und Wertschätzung im Vordergrund stehen. Dafür standen uns im Haus zum Dolder die Tore weit offen und die Museumsleitung liess uns alle Freiheiten, das Museum zu einem ausserschulischen Lernort und Ort des interkulturellen Austauschs zu machen.

«The history of our culture is really dark and heavy and I think people need to find a way to come together as human beings and look at each other as human beings. You know, we don’t have to be competing with each other».

 Louise Thomas, Galeristin und indigener Gast aus Ontario, Kanada

Schülerinnen beim Workshop in der Installation «Reservation Home» vor dem Haus zum Dolder. (Bild: Jasmin Gerig)
Schülerinnen beim Workshop in der Installation «Reservation Home» vor dem Haus zum Dolder. (Bild: Jasmin Gerig)
Die Schülerinnen und Schüler beschäftigten sich im Workshop mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten. (Bild: Jasmin Gerig)
Die Schülerinnen und Schüler beschäftigten sich im Workshop mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten. (Bild: Jasmin Gerig)

Zwischen Heavy-Metal-Poesie und traditionellem Trommelgesang

So starteten wir jeden Workshop mit einem Gedicht von Mike Metatawabin, einem unserer Gäste der Fort Albany First Nation im nördlichen Ontario. Zeile für Zeile verarbeitet er darin seine Erlebnisse aus der Residential School (siehe Infobox) und sendet auf poetischem Weg hochaktuelle und politische Botschaften in die Welt. Erhellend und gleichzeitig irritierend war für die Schülerinnen und Schüler, dass die von ihm gesprochenen Gedichte mit sanfter Heavy Metal-Musik einer Schweizer Band hinterlegt waren.

«Not everybody is drunk. Not everybody is caught up in the streets. But that’s what they will show you, that’s what they will tell you: ‘they are all drunk’. We’re not». 

Mike Metatawabin, indigener Gast, ehemaliger Chief und Dichter aus Ontario, Kanada


Infobox: Das Residential-School-System

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein versuchte der kanadische Staat die indigene Kultur zu zerstören. In den, zumeist von christlichen Kirchen geführten, Residential Schools (Internaten) durchliefen tausende indigene Kinder das Umerziehungsprogramm, welches zum Ziel hatte, alles «Indigene» aus den Kindern auszutreiben. In vielen der knapp 140 Residential Schools Kanadas gehörte psychische und physische Gewaltanwendung zur Tagesordnung. Viele internierte Kinder starben an Krankheiten oder sie kamen auf der Flucht, getrieben von Heimweh, aus dem Internat um. Einige setzten ihrem Leben selbst ein Ende, um nicht mehr ertragen zu müssen, was in diesen Internaten mit ihnen geschah. Erst 1998 schloss in der Provinz Sasketchewan die letzte Residential School ihre Tore.


Im inszenierten Schulzimmer setzten sich die Lernenden mit den Residential Schools auseinander. (Bild: Jasmin Gerig)
Im inszenierten Schulzimmer setzten sich die Lernenden mit den Residential Schools auseinander. (Bild: Jasmin Gerig)

Nur wenige Schulklassen kannten den düsteren Teil der kanadischen Kolonialgeschichte mit den verheerenden Auswirkungen des Residential School-Systems. Ziel dieser Internate war es, alles «Indianische» aus den Kindern auszutreiben. Ungefähr 150’000 Kinder durchliefen in Kanada das Umerziehungsprogramm der Residential Schools. Die letzte schloss 1998 ihre Tore. Umso tiefer berührte es die Lernenden, wenn Mike Metatawabin und Rita May Fenton von ihren eigenen Erfahrungen, den psychischen und physischen Qualen erzählten. 

 «It’s very important to not only learn the history of your own country but also learn history of other countries». 

Rita May Fenton, Elder (Älteste), Sozialarbeiterin und indigener Gast aus Ontario, Kanada

Die Schülerinnen und Schüler erfuhren aus erster Hand, wie die beiden heute damit umgehen und welche Bedeutung für sie die eigene Identität hat. Während Mike Metatawabin sich in seinen Gedichten ausdrückt, findet die fast 80-jährige Rita May Fenton Versöhnung und Frieden in ihrer Spiritualität. Ihre indigene Geschichte hat sie erst mit über 40 Jahren wiedergefunden, ebenso wie ihre Liebe zu ihrer Trommel und den indigenen Gesängen. 

«Es macht mich nachdenklich».

Schülerin einer Sekundarklasse aus Luzern

Wir sitzen alle im gleichen Boot

 Roy Thomas, We Are All In The Same Boat. Mit freundlicher Genehmigung von Louise Thomas. (Bild: Roy Thomas)
Roy Thomas, We Are All In The Same Boat. Mit freundlicher Genehmigung von Louise Thomas. (Bild: Roy Thomas)

Auch Louise Thomas geht ihren eigenen Weg, indigene Geschichte zu erzählen. Im Kunstteil der Ausstellung zeigte sie eine Auswahl indigener Kunst ihres verstorbenen Mannes Roy Thomas. Die im farbigen «Woodlands Style» gemalten Bilder zogen die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler sofort auf sich, warfen Fragen auf und sorgten für den erwünschten Gesprächsstoff. Louise Thomas ging gekonnt darauf ein und erklärte anhand der Bilder, die wichtigsten Aussagen dieser Kunst: gegenseitigen Respekt, Toleranz sowie die Verbundenheit zur Natur. Die Kernbotschaft, die auch im Titelbild der Ausstellung zu sehen ist, lautet: Wir sitzen alle im gleichen Boot.

«I think it’s important to educate young people doesn’t matter where they are about, of course the residential school, the history of our people. But it’s also important to talk about what our people are painting, what our artists are painting».

Louise Thomas, Galeristin und indigener Gast aus Ontario, Kanada

Interkultureller Brückenschlag mit Nachhall

Rund 270 Schülerinnen und Schüler besuchten während gut einem Monat den Workshop zur Sonderausstellung. Die Pädagogische Hochschule Luzern trug wesentlich dazu bei, diese aussergewöhnliche Möglichkeit des interkulturellen Austauschs zu fördern und übernahm anlässlich des 20 Jahr-Jubiläums die Workshopgebühren der ersten 15 Schulklassen.

 

Gefreut hat uns, dass sich fast alle Klassen im Vorfeld mit den zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien auf den Besuch vorbereitet haben. Überrascht hat uns die kaum vorhandene Sprachbarriere und die Bereitschaft der Lernenden, das direkte Gespräch mit den indigenen Gästen zu suchen. Selten mussten wir Gespräche anregen oder unterstützen. Bewährt haben sich die sogenannten «Blitzlichter»: Auf Kärtchen formulierten die Schülerinnen und Schüler ihre Fragen und Eindrücke. Louise, Rita und Mike studierten und sortierten die Blitzlichter vor der Schlussdiskussion und konnten so auf das eingehen, was die Schülerinnen und Schüler gerade bewegte: Wo und wie wohnt ihr? Welche Sprachen sprecht ihr? Was ist euch besonders wichtig in eurer Kultur und Geschichte? 

«Sie haben nicht nur die Kultur der indigenen Gäste aus Kanada kennenlernen dürfen, sondern ihre Herzen wurden durch die persönliche Begegnung berührt».

 

Ornella Mercoli, Lehrperson Kreisschule Entfelden

Beeindruckt hat uns die Offenheit und Neugier, mit der sich die Schülerinnen und Schülern in dieses umfassende und sehr sensitive Thema gestürzt haben. Wir sind überzeugt, dass die Begegnung mit Louise, Mike und Rita wesentlich dazu beigetragen hat, klischeehafte Vorstellungen zu revidieren und vielleicht auch die Geschichte des eigenen Landes zu überdenken. Und wir glauben, dass diese Reise - weit über den Klassenraum hinaus - den Horizont der Teilnehmenden auf einzigartige und berührende Weise erweiterte und eine Brücke zwischen zwei unterschiedlichen Geschichten schlagen konnte.  

«Es war eine einmalige Erfahrung, auch für uns vom Workshopteam. Wir würden diese Herausforderung jederzeit wieder annehmen».

Jasmin Gerig und Angela Müller, Entwicklerinnen des Workshops zur Ausstellung «Aski-Land»


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