Text: Vera Bergen / Vorschaubild: Victoria Rain on Pexels
«Ostschweizer Lehrer wird von Jugendlichen schikaniert» (Thurgauer Zeitung), «Auffälliges Verhalten, Unruhe, Störungen: In fast jeder Klasse sitzt ein Kind mit ADHS» (Tagesspiegel) oder «Immer mehr Kinder mit Verhaltensstörungen im Kanton Luzern» (Luzerner Zeitung). Das (auffällige) Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist ein Schlagzeilen-Garant. Doch was heisst auffälliges Verhalten eigentlich? Und – viel wichtiger – wie gehen Schulen damit um? Die Schule St. Karli in der Stadt Luzern öffnet – stellvertretend für viele Schulen – ihre Türen.
Beginnen wir im Kindergarten mit Lukas*. Er hält sich an keine Regeln, wirft mit Spielsachen und Farbstiften um sich, antwortet frech und gibt der Lehrpersonen einen Klaps auf den Hintern, wenn er mit den gestellten Anforderungen nicht klar kommt.
In der Unterstufe gibt es Vorfälle mit und wegen Laura*. Sie schreit mehrmals pro Woche gellend und steigt über Pulte und Stühle, wenn sich die Lehrperson ihr nähern möchte. Auch die Mutter von Laura, die bei der Lösung des Problems helfen möchte, kann ihr Kind während eines Schulbesuchs nicht beruhigen und wird von Laura sogar mit dem Schal, den die Mutter trägt, gewürgt.
Zu Lukas und Laura kommt auch noch Liar* in der Mittelstufe. Liar mag es nicht, im Kreis zu sitzen. Obwohl er die Möglichkeit hat, ausserhalb zu sitzen, kann es sein, dass er mit der Situation nicht zurechtkommt. Er beginnt auf das Pult zu trommeln, mit lauter Stimme zu lesen. Wenn die Lehrperson sein Verhalten anspricht, eskaliert die Situation manchmal so sehr, dass der Unterricht nicht mehr weitergehen kann und die anderen Schüler und Schülerinnen das Schulzimmer wechseln müssen. Liar versteckt sich unterdessen unter einem Pult und braucht lange, bis er wieder ansprechbar ist.
*Namen geändert.
Immer mehr verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche
Lukas, Laura und Liar – drei Kinder, die in den letzten Jahren mit ihrem Verhalten den Unterricht im Luzerner St. Karli Schulhaus gestört haben. Sie sind nicht die einzigen. Schweizweit steigen die Zahlen der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten. Dieses Schuljahr ist im Kanton Luzern die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit einer Sonderschulmassnahme um 103 Lernende auf 1686 angestiegen. Gerade einmal 0,8 Prozent oder 366 Kinder davon haben eine diagnostizierte Verhaltensstörung. Hinzu kommt wohl noch eine nicht bezifferbare Zahl von Kindern ohne Diagnose, die mit ihrem Verhalten den Unterricht über das Normale hinaus stören. Wie viele Schulzimmer – und damit Klassengspändlis, Lehrpersonen und Schulleitungen – betroffen sind, lässt sich darum nur schätzen. Klar ist aber: Verhaltensauffällige Kinder – wie im Fall von Lukas, Laura und Liar – haben grosse Auswirkungen. Auf Klassen- und Schulklima, aber auch auf die familiäre Dynamik. Und nicht zuletzt leiden auch die betroffenen Kinder selbst.
Die Gründe für das auffällige Verhalten sind dabei so verschiedenen, wie die Betroffenen selbst. Um nur ein paar zu nennen: So kann das Kind emotional zu wenig reif sein, es kann unter- oder überfordert sein oder traumatische Fluchterfahrungen gemacht haben. Das auffällige Verhalten kann jedoch auch mit anderen Menschen (Gruppendynamik) oder gar nicht erst mit der Schule, sondern mit dem Daheim zusammenhängen. Kommt dazu, dass die Corona-Pandemie ebenfalls Wirkung zeigt, wenn es um auffälliges Verhalten geht: «Wir vermuten, dass es Kinder gibt, deren Sozial- und Selbstkompetenz wegen der unterrichtsfreien Zeit während Covid-19, gelitten haben», sagt St. Karli-Schulleiterin Wendela Martens. Und fügt an: «Es könnte auch sein, dass die betroffenen Kinder (und eventuell ihre Eltern) zu viel mit Tablet und Smartphone spielen, sodass Kinder keine stabilen Bindungen aufbauen können.»
Lernen damit umzugehen
Die Dienststelle Volksschulbildung schreibt in ihrer Broschüre «Auffälliges Verhalten – eine Herausforderung im Team – Umsetzungshilfe zur Stärkung der Regelschule», dass Verhaltensauffälligkeiten Teil des Schulalltags sind. Oder wie es das Sprichwort sagt: «Alle haben ihr Päckchen zu tragen». Je nach Erfahrungen, die man aber schon in jungen Jahren macht, ist es für die Kinder und Jugendlichen nicht leicht damit umzugehen und sie zeigen es in auffälligem Verhalten. Genauso wie das Kind, «muss aber auch die Volksschule lernen damit umzugehen», sagt DVS-Leiterin Martina Krieg.
Wie an den Luzerner Schulen mit der Thematik umgegangen wird, hängt auch von der zuständigen Gemeinde, der Schulleitung und weiteren Faktoren ab. Die Stadt Luzern beispielsweise bietet ein Stufenmodell bei Verhaltensauffälligkeiten an, welches von der Schulunterstützung erarbeitet wurde. Die sieben Stufen von Integration bis Separation zeigen auf, bei welcher Auffälligkeit wie kommuniziert und gehandelt werden muss. Ab Stufe 3 – also bei Störungen, die den Unterricht nachhaltig beeinträchtigen und negative Auswirkungen auf das Klassenklima haben – werden neben zuständigen Lehrpersonen, Schulleitung und Erziehungsberechtigten auch aussenstehende Stellen beigezogen. Das können beispielsweise Schulsozialarbeit oder der Schulpsychologische Dienst sein.
Wendela Martens und die Schule St. Karli haben gute Erfahrungen gemacht mit diesem Stufenmodell: «Nur schon im Gespräch mit den Erziehungsberechtigten schälen sich manchmal mögliche Gründe für das Verhalten eines Kindes heraus. Dort kann angesetzt werden».
Wichtig im Umgang mit auffälligem Verhalten ist, dass nicht nur für das betroffene Kind, sondern auch für die Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schüler gesorgt wird. «Die betriebliche Gesundheitsförderung und das Augenmerk darauf, wie Lehrpersonen in schwierigen Zeiten gesund bleiben, ist uns sehr wichtig», sagt Wendela Martens. Greifen schulinterne Massnahmen wie Time-out-Lösungen, kurzfristiger Klassenwechsel, Coaching für Lehr- und Betreuungspersonen oder Besuch der Schulpsychologin in der Klasse nicht, gibt es weitere Möglichkeiten ausserhalb der Schule. Braucht es eine Psychotherapie für das Kind? Oder kann das Familienklassenzimmer eine Lösung sein? Für ein Kind der Schule St. Karli war das Familienklassenzimmer das Richtige: Es durfte während mehrerer Monate zusammen mit seiner Mutter einmal wöchentlich das Familienklassenzimmer der Stadt Luzern besuchen, bei dem Eltern und Kind schulisch und familiär unterstützt werden.
Das Familienklassenzimmer
Mehrere Gemeinden im Kanton Luzern bieten ein solches Unterstützungsangebot an. Während mindestens drei Monaten besuchen Kinder mit einem Elternteil einen Halbtag pro Woche den Unterricht im Familienklassenzimmer. Es geht dort darum, Beziehungen zu gestalten, am individuellen Entwicklungsbedarf zu arbeiten, die Verbindung zwischen Schule und Elternhaus zu stärken und die Integration in der Klasse zu verbessern. Die Gemeinde Kriens etwa verfügt seit 2013 an zwei Schulstandorten über Familienklassenzimmer und hat deren Nutzen durch die Berner Fachhochschule überprüfen lassen. Diese kommt in ihrem Evaluationsbericht zu Schluss, dass «das Familienklassenzimmer sich als wirkungsvolles Angebot erweist, um herausforderndem Verhalten von Schülern und Schülerinnen durch die verstärkte Kooperation von schulischen Akteuren und Familien zu begegnen». Auch die Schule St. Karli hat laut Wendela Martens gute Erfahrungen gemacht mit dem Familienklassenzimmer. «Das Kind konnte in der Gruppe eine Vorbildfunktion einnehmen und die Mutter hatte einen guten Einfluss auf ihr Kind. Falls wieder Schwierigkeiten auftauchen, können wir dort anknüpfen».
Eine(r) für alle, alle für eine(n)
Neben der Sorge um und für die einzelnen, verhaltensauffälligen Kinder ist vor allem die Grundhaltung einer Schule, deren Leitung und der Lehrpersonen entscheidend. Die DVS fasst dies in ihrer Broschüre zum Umgang mit auffälligen Verhalten so zusammen: «Basis für alle pädagogischen Bemühungen bildet eine persönliche Beziehung zwischen dem Kind und der Lehrperson». Werden Haltung und davon abgeleitete Mottos und Leitsätze an einer Schule konsequent gelebt, sind meist auch die persönlichen Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Kind besser und sie haben die Macht, ein Schulklima entscheidend zu beeinflussen. Dies wiederum macht es möglich, dass Auffälligkeiten allenfalls besser angegangen werden können.
UBUNTU: St. Karli-Schulhaus setzt auf Gemeinschaftssinn
Das Schulhaus St. Karli legt den Fokus auf eine integrative Haltung. Diese zeigt sich unter anderem beim Schulmotto: UBUNTU. Das ist nicht nur eine Programmiersprache, sondern auch eine afrikanische Lebensphilosophie. Ubuntu steht für wechselseitigen Respekt und Anerkennung, Achtung der Menschenwürde und das Bestreben nach einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft. Dies soll auch jenen Kindern helfen, die sich unwohl oder unsicher fühlen und dies mit Verhaltensauffälligkeiten kundtun. Die Schule St. Karli übersetzt UBUNTU in «Ich bin, weil wir sind». «Dazu wurde in diesem Schuljahr ein Ubuntu-Maskottchen gestaltet. Wie Ubuntu aussieht, haben sich die Kinder ausgedacht und es wurde dann von unserer Lehrperson Textiles Gestalten genäht», erklärt Wendela Martens. «Das Ubuntu-Maskottchen ist nun jede Woche in einer Klasse auf Besuch und es ist eine schöne Möglichkeit, das Gemeinschaftsgefühl zu pflegen».
Kommt dazu, dass bei der Schule St. Karli die Schule und die Auseinandersetzung mit Kindern mit auffälligem Verhalten nicht mit dem Heimweg nach der Schule endet. Wendela Martens erklärt, «als Sozialraum orientierte Schule leben wir nach dem Sprichwort «Es braucht ein ganzes Dorf – bei uns also ein Quartier – um ein Kind zu erziehen». Darum treffen sich die Schulleitung, die Schulsozialarbeit und weitere schulische Stellen mehrmals pro Jahr mit Akteuren aus dem Quartier. «Dabei besprechen wir die Dynamik der Kinder im Quartier und wer was dazu beitragen kann, dass Auffälligkeiten angegangen werden können». Die Arbeit im Team empfiehlt auch die Dienststelle Volksschulbildung in ihrer Broschüre: «Wenn jede und jeder sich als Teil eines Systems versteht und Verantwortung übernimmt, so kann sich die Schule stark machen». Wendela Martens ist darum froh, ein tolles Team und engagierte Fachstellen um sich zu wissen. «Mit ihren Ideen, ihrem Engagement und ihrer Menschlichkeit tragen sie meines Erachtens zur Chancengerechtigkeit und zum Wohle aller an unserer Schule bei».
Wenn nichts mehr geht, geht es noch weiter
Mit viel Einsatz ist es bis zu einem gewissen Punkt möglich, ein verhaltensauffälliges Kind in der Schule und in Zusammenarbeit mit dem Quartier, schulpsychologischen Dienst, Schulsozialarbeit und Co. zu erziehen. Wenn aber die höchste Eskalationsstufe erreicht ist und die Teilnahme des Kindes am Unterricht in einer Regelschule nicht mehr zumutbar ist, muss das Kind die Schule verlassen. Je nach Situation und mit Verfügung der Dienststelle Volksschulbildung wird es dann an eine Sonderschule überwiesen. «Dafür wird jeder Einzelfall genau geprüft und nach der bestmöglichen Lösung für das betroffene Kind gesucht», sagt Daniela Dittli, Leiterin der DVS-Abteilung Schulbetrieb II, die für die Sonderschulung zuständig ist. «Eine Sonderschulung muss für das betroffene Kind passen und darf nicht als Lösungsversuch von System- und Überlastungsproblemen von Schule und Lehrpersonen «missbraucht» werden».
Was macht der Kanton Luzern rund um das Thema Verhalten?
- Dreijähriger Schulversuch: Ab August 2023 startet in der Stadt Luzern und in der Gemeinde Schötz ein dreijähriger Schulversuch für den Bereich Verhalten und sozial-emotionale Entwicklung. Damit soll geklärt werden, ob Sonderschulklassen an Regelschulen für Lernende mit ausgewiesenem Sonderschulbedarf eine überzeugende Ergänzung zu den bisherigen Sonderschulen darstellen. Zudem erfolgte ïn den vergangenen Jahren in drei separativen Sonderschulen im Kanton Luzern eine Erweiterung an Plätzen. Ein weiterer Ausbau ist bereits bis 2026 geplant.
- Projekt Verhalten: Zudem hat die Dienststelle Volksschulbildung ein Projekt zum Thema Verhaltensauffälligkeiten lanciert. Im Rahmen des «Projekts Verhalten» wurde in den letzten Monaten die aktuelle Situation an den Luzerner Schulen analysiert. Es hat sich gezeigt, dass viel Wissen an den Schulen, den schulischen Diensten und Sonderschulen vorhanden ist. Unterstützungs- und Beratungsleistungen werden gewinnbringend erlebt und niederschwellige Angebote der Schulen zur Unterstützung der Gemeinschaft sowie von einzelnen Lernenden funktionieren. Bereits wurden erste Massnahmen umgesetzt:
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- Ressourcen IS-Verhalten werden pauschalisiert vergeben.
- Die DVS plant den neuen CAS Brennpunkt Verhalten der PH Luzern zu unterstützen.
- Erste Schulen können als Pilotschule die weitere Entwicklungsarbeit der Bausteingruppen im Entwicklungsvorhaben «Schulen für alle» begleiten.
- Der Regierungsrat wird über die Mitfinanzierung von Angeboten wie Schulinseln, Time-In-Angeboten, Familienklassenzimmer usw. befinden. Auch der Einsatz von Koordinationspersonen zur Entlastung von Lehrpersonen und Schulleitenden ist im Gespräch.
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Lisa Ludwig (Dienstag, 27 Juni 2023 07:59)
Warum sieht sich die Schule/Bildung nur in der Opferrolle?