Text: Peter Gautschi
Geschichtsvermittlung profitiert von der digitalen Revolution. Neue Technologien und innovative Anwendungen erleichtern den Umgang mit Vergangenheit. Mixed Reality erlaubt neue Einblicke ins Universum des Historischen, und Gamification motiviert zum aktiven Umgang mit Geschichte und Geschichten. Aber tragen all diese Neuerungen auch zu historischer Bildung bei?
Seit über 2000 Jahren lernen Menschen aus der Geschichte. Sie suchen dort Antworten auf zentrale Fragen zu ihrem Dasein: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Was hat sich wie und wieso verändert? Was kann ich heute und in Zukunft tun? Geschichte erklärt die Gegenwart. Wer ein selbstbestimmtes Leben führen will, braucht einen grösseren Blick fürs Ganze, um die Handlungsspielräume zu erkennen, um die Gewordenheit zu sehen, um Gefahren zu entgehen und Chancen nutzen zu können. Wir leben in einem riesigen Universum des Historischen, das jeden Tag grösser wird. Vieles davon liegt und bleibt im Dunkeln.
Mit neuen Mitteln ins Universum des Historischen leuchten
Um das Dunkel zu erhellen, standen während Jahrhunderten Texte und Bilder zur Verfügung. Ein wichtiger Innovationsschub für Geschichte, Geschichtsunterricht und Public History ergab sich durch audiovisuelle Medien. Plötzlich konnte man wichtige Momente mit Tonaufnahmen mit- oder nachverfolgen. Hitler und Goebbels kamen über das Radio in die Wohnstube und später in den Unterrichtsraum; die Mondlandung oder der Einsturz des World Trade Centers konnten Zeitzeuginnen, Zeitzeugen in der Schweiz per Fernsehen miterleben, und auch heute noch können wir die beiden Schlüsselereignisse in eindrücklichen Filmen nachverfolgen.
War mit Text und Bild die Vergangenheit noch weit entfernt, so bekamen Menschen mit Filmen dank hervorragenden Veranschaulichungen den Eindruck, näher an Vergangenheit heranzurücken. In der von uns mitentwickelten App «Fliehen vor dem Holocaust» können wir zum Beispiel Eva Koralnik mit dem eigenen Mobile-Telefon zu uns in die Stube hereinholen, damit sie erzählt, wie sie knapp den faschistischen Verbrechern entkommen ist.
Noch analog oder schon digital? Mixed Reality
Und jetzt erleben wir heute einen weiteren Innovationsschub, bei dem sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzulösen beginnen. Wir haben es mit Mixed Reality zu tun. Sobald wir uns eine 3D-Brille aufsetzen, können wir in die Vergangenheit reisen und zum Beispiel ein Stasi-Gefängnis besuchen oder General Dufour im Sonderbundskrieg 1848 von nah begleiten. Oder wir sind als Gamer*in unterwegs im Jahr 1941, fliehen zusammen mit einem Mädchen quer durch Europa und können auf diese Geschehnisse – so zumindest im virtuellen Raum – Einfluss nehmen.
Um Chancen und Risiken solcher Games besser zu verstehen, haben sich das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogische Hochschule Luzern (PH Luzern) und das Zürcher Studio Inlusio Interactive zusammengeschlossen, um gemeinsam das Videogame «The Journey of Europe» zu produzieren. Das auf historischen Tatsachen basierende Spiel zum Thema Flucht soll unterhalten, visuell bestechen und gleichzeitig historische vermitteln – ein schweizweit einzigartiges Projekt, für das Fachleute der Game-Entwicklung, des Storytellings, der Geschichtsdidaktik und der Schulpraxis eng zusammenarbeiten. Unterstützt und gefördert wird es unter anderem von der Gebert Rüf Stiftung und vom Bundesamt für Kultur.
Journey of Europe: Auf der Flucht im 2. Weltkrieg wie auch heute
Im Game steuern die Spielerinnen und Spieler zwei Mädchen während des Zweiten Weltkrieges und in der Gegenwart durch Europa. Die beiden Flüchtenden treffen immer wieder auf Menschen, die sie auf ihrem Weg unterstützen oder auch behindern. Der Fluchtweg des Mädchens im Zweiten Weltkrieg führt sie von Nordeuropa bis in den Süden des Kontinents. Die Geschichte ist eine potentiell wahre: sie verwendet als Grundlage Biographien vertriebener, geflüchteter und deportierter Europäerinnen und Europäer. Anhand eines möglichen Einzelschicksals thematisiert das Spiel die Ausgrenzung, welche Millionen von Menschen erleiden mussten.
Als Rahmenhandlung dient die Erzählung eines zweiten Mädchens in der Gegenwart. Hier spielt sich die Ausgrenzung aber nicht innerhalb, sondern an einer der Küsten Europas ab. So werden die Ausgrenzungen der Vergangenheit, welche in letzter Konsequenz zur Entstehung eines friedlich geeinten Europas führten, denjenigen der Gegenwart gegenübergestellt.
Reales Eintauchen in eine erdachte Welt
Journey of Europe setzt 'Gamification' um. Mit diesem Begriff werden eine Reihe von Merkmalen bezeichnet, die ein Game hat: Es ermöglicht das Eintauchen in eine andere Welt, bewirkt Emotionen, präsentiert Handlungsoptionen und gibt Gestaltungsmacht, macht Spass und Freude. Darüber hinaus zeigt ein Game den Stand des Fortschritts, gibt unmittelbar Rückmeldung, präsentiert kurzfristige und langfristige Ziele und Herausforderungen und belohnt die Gamerinnen und Gamer, wenn sie eine Aufgabe gemeistert haben.
In «Journey of Europe» werden die Spielerinnen und Spieler in das Universum des Historischen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs entführt, lernen dort archetypische Fluchtsituationen kennen, interpretieren den Kontext und entwickeln ein Urteil über die Geschehnisse. Falls dies gelingt, trägt das Spiel zu historischer Bildung bei.
Weitere Beiträge von Prof. Dr. Gautschi im Netz über
- Gamification auf Public History Weekly
- Neue Lern-App "Fliehen vor dem Holocaust" auf EDA Interactiv
Kommentar schreiben