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Wenn Unterricht «phänomenal» wird - Lehrkunst an der Kantonsschule Alpenquai

Text: Philipp Spindler, Co-Leiter der Kollegialen Lehrkunstwerkstatt, Bilder: Benno Bühlmann

Seit 2006 widmen sich Lehrpersonen aus verschiedenen Fachgebieten an der Kanti Alpenquai der Lehrkunstdidaktik. Sie entwickeln selber Lehrstücke, die den Unterricht und das Thema für die Lernenden erlebbarer, begreifbarer und erkundbarer machen. Wie beispielsweise das Lehrstück über das Phänomen des PARADOXEN, das bald im Englischunterricht Anwendung findet.

Lehrstück Jerusalem an der Kanti alp
Im Lehrstück «Jerusalem», das die drei semitischen Religionen thematisiert, entdecken die Schülerinnen und Schüler Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zwischen den vorliegenden Gegenständen.

Zu dritt sitzen wir, eine Religionslehrerin, eine Dozentin für Erziehungswissenschaften und ein Mathematiklehrer, in einem Workshop zur Lehrkunstdidaktik über einem Text gebeugt. Katherine White, unsere Kollegin und Englischlehrerin an der Kanti Alpenquai, hat uns diesen Ausschnitt aus dem Theaterstück «The Importance of Being Earnest» von Oscar Wilde soeben ausgeteilt. Das ist alles, was wir darüber wissen; der Text ist für uns neu. Aber auch für die anderen Kolleginnen und Kollegen in der Lehrkunstwerkstatt, die sich in Gruppen der Text-Aufgabe widmen. Wir tauchen in ein neues Lehrstück ein und werden dessen Thema selbst «erschliessen» und «entdecken».

Wir beginnen zu lesen – und wundern uns schon bald: Da treten mehrere Figuren auf, die sich nicht nur in ihrem Leben langweilen, sondern auch, statt Gegensteuer zu geben, Gespräche führen, die sie desinteressieren. Warum sprechen sie dann überhaupt miteinander? Und worüber sie sprechen! Die Ankündigung eines geplanten Heiratsantrags geht unvermittelt in die Diskussion der Frage über, wem das Butterbrot oder das Gurkensandwich zusteht, worauf einer der Protagonisten wie aus heiterem Himmel die Verlobung verweigert. Nanu, was läuft denn hier? Die sprunghafte Handlung verwirrt.

 

Gleichzeitig ist der Text gespickt mit Passagen, die Eingang in eine Zitate-Sammlung finden könnten: «In der Stadt amüsiert man sich. Auf dem Land amüsiert man die andern.» «Ungewissheit ist das Wesen des Romantischen.» «Frauen heiraten niemals die Männer, mit denen sie flirten. Die Frauen denken, das schickt sich nicht.» Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Eine scheinbar belanglose Handlung, gleichzeitig diese bedeutungsvollen Aussagen, die wie Konfetti eingestreut sind und nie so recht zum Geschehen passen wollen. Das ist doch «paradox»! Zum ersten Mal benutzen wir dieses Wort. Doch vielleicht sind wir die Einzigen, die so empfinden? 

 

Die geschilderte Szene ist der Anfang eines neuen Lehrstücks, das die Englischlehrerin Katherine White für ihre Schülerinnen und Schüler komponiert hat. 

 

Katherine White Englischlehrerin Kantonsschule Alpenquai
Katherine White stellt den Teilnehmern der Lehrkunstwerkstatt ihr Lehrstück vor

"Die Schülerinnen und Schüler begegnen dem Roman bzw. Stück oder gar dem Autoren/der Autorin im Hier und Jetzt über das gesprochene Wort, bei der Reflexion über aktuelle Bezüge zu einer anderen Epoche oder bei dem Perspektivenwechsel. Anstatt von der Lehrperson vorbereitete Fragen zu beantworten, können die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Fragen an die Texte oder Theaterstücke stellen."
Katherine White, seit 2017 Mitglied der Lehrkunstwerkstatt

 


 

Der Lehrstückunterricht ist ein didaktisches Konzept, das in den vergangenen Jahrzehnten zu einer ernstzunehmenden Unterrichtsmethode herangewachsen ist. Ein Lehrstück ist eine Unterrichtseinheit zu einem «epochenübergreifenden Menschheitsthema» oder zu einer «Sternstunde der Menschheit». Die Schülerinnen und Schüler tauchen zu Beginn eines Lehrstücks in ein Phänomen ein, das sie gefangen nimmt. 

 

Das kann eine babylonische Tontafel mit rätselhaften Kerben sein; eine Kerze, die zahlreiche Rätsel aufgibt, sobald sie neugierig beobachtet wird; Wolkenformen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen; oder wie im vorliegenden Beispiel eine literarische Vorlage, die zum Nachdenken anregt. Die Phänomene werfen Fragen auf, denen in der anschliessenden Diskussion nachgegangen wird. Durch das Betreten der Fussstapfen bedeutender Persönlichkeiten aus Forschung, Philosophie, Dichtung und Kunst entdecken und erschliessen die Schülerinnen und Schüler fundamentale Konzepte, Erkenntnisse und Errungenschaften der Wissenschaft und Kultur und machen sie sich zu eigen. Ein Lehrstück ist somit Unterricht, der sich auf das genetische Prinzip beruft und dramaturgisch aufbereitet ist. 


gesammelte Lehrstücke aus der Zeit 2006-2012
Das Ergebnis der ersten Lehrkunstwerkstatt 2006 – 2012: Ein Laufmeter dokumentierter Lehrstücke im Fachschaftszimmer an der Kanti Alpenquai.

DEFINITION LEHRSTÜCK

Ein Lehrstück ist eine ausgestaltete Unterrichtseinheit zu Menschheitsthemen, die epochenübergreifend oder zumindest schulisch bedeutsam sind. Es folgt der exemplarisch-genetisch-dramaturgischen Methodentrias. Inszeniert werden Lehrstücke als improvisationsoffene Mitspielstücke über eine zeitlich begrenzte Dauer von typischerweise 10 bis 25 Lektionen.

Weitere Infos:  www.lehrkunst.org


Nach der Diskussion in der Dreiergruppe eröffnet Katherine White den Austausch mit den beiden anderen Gruppen, welche sich in andere Texte aus dem gleichen Werk vertieft haben. Sie berichten über Ähnliches: Auch in ihren Werkausschnitten verhalten sich die Figuren oftmals so, wie es ein Leser oder Zuschauer nicht erwartet: Eine Lady interviewt einen Heiratswilligen und reagiert auf seine Antworten so, als würde sie ihm gar nicht zuhören, stört sich dann allerdings an der Nummer des Hauses, das er besitzt. Die Krönung des Verwirrenden ist die Figur des Bunbury, die ein Adeliger erfindet und immer dann vorschiebt, wenn ihm Situationen drohen, die er als unangenehm empfindet. Wir stehen alle vor einem Rätsel. Was bezweckt Oscar Wilde mit diesen paradoxen Szenen?


Susanne Wildhirt grübelt - Lehrstück Trinkvogel
Im Lehrstück zur Thermodynamik denkt Susanne Wildhirt über den Trinkvogel nach, der selbst Albert Einstein ins Grübeln brachte.

"Für mich bietet der Lehrstückunterricht die Möglichkeit einer anderen Herangehensweise an Literatur oder Theaterstücke im Englischunterricht. Auf vielen Ebenen entdecken und erfahren die Schülerinnen und Schüler die Literatur, anstatt sie nur zu lesen."

Katherine White


Von 2006 bis 2011 gab es an der Kantonsschule Alpenquai Luzern bereits eine erste Kollegiale Lehrkunstwerkstatt, wie die Organisationsform heisst, mit welcher die Lehrkunstdidaktik, das Konzept hinter dem Lehrstückunterricht, an die Lehrpersonen herantritt. Damals wurden Lehrstücke aus Mathematik und Physik in den Unterricht implementiert. Entstanden ist eine Sammlung ausführlich dokumentierter Lehrstücke, griffbereit für alle Kolleginnen und Kollegen, die selbst eine solche Unterrichtseinheit einsetzen möchten.

 

2017 wurde eine neue Lehrkunstwerkstatt ins Leben gerufen, diesmal mit einer grösseren Fächerdiversität (Deutsch, Englisch, Religionskunde und Ethik, Physik, Mathematik, Informatik). Sie ist als sogenannte Qualitätsgruppe organisiert und eine Säule der Schulentwicklungsprojekte der Kantonsschule Alpenquai. Die derzeit zehn Mitglieder der Lehrkunstwerkstatt treffen sich zwei bis dreimal pro Schuljahr zu Workshops. Für die Leitung konnte Susanne Wildhirt, Professorin für Bildungs- und Erziehungswissenschaften an der PH Luzern, gewonnen werden. In den ersten zwei Jahren lag der Fokus auf der Einführung in die Lehrkunstdidaktik und auf dem Kennenlernen bereits existierender Lehrstücke. 

 


Lehrkunstdidaktik an der Kanti Alpenquai
Katrin Vock, Ruth Meyerhans und Philipp Hagen suchen den Weg zum Schatz, Roel Zuidema beobachtet (Lehrstück «Vektoren»).

 

"Am Lehrstückunterricht gefällt mir der sehr ganzheitlich und interdisziplinär angelegte Arbeitsprozess, der jenseits vom tendenziell sehr «zerstückelten» Schulalltag den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit gibt, sich über eine längere Zeitspanne hinweg in ein Thema zu vertiefen. Diese Art des Lernens ist meines Erachtens im besten Sinne des Wortes «phänomenal», weil sich die Schülerinnen und Schüler in einer Grundhaltung des Staunens und Entdeckens auf spannende Phänomene einlassen und diese in einen grösseren Kontext hinein stellen können."

Benno Bühlmann, Religionslehrer, seit 2017 Mitglied der Lehrkunstwerkstatt


Nun befindet sich das Projekt in der zweiten Phase, in welcher die Gruppenmitglieder ihre eigenen Lehrstücke erarbeiten und im Unterricht ausprobieren. In den Workshops (so wie in den obigen Abschnitten geschildert) stellen die ambitionierten Lehrstückkomponistinnen und -komponisten ihre bisherigen Ergebnisse vor.

 

Die derzeit laufenden Vorhaben sind vielfältig: Es entstehen Lehrstücke zu Jerusalem (Religion; Tamar Krieger und Benno Bühlmann), zum Trinkvogel sowie zum Nordlicht (Physik; Michael Portmann), zu Paradoxien bei Oscar Wilde (Englisch; Katherine White), zu Carl Spitteler (Deutsch; Stefan Graber), zum Literaturkanon (Deutsch; Ruth Meyerhans), zum Grossinquisitor bei Dostojewski (Deutsch; Amanda Baghdassarians), zum Wesen des Digitalen (Informatik; Simon Wehrle) und zu Vektoren (Mathematik; Roel Zuidema).

Philipp Spindler, Katherine White an der Kanti Alpenquai
Philipp Spindler und Katherine White versuchen, der Wegbeschreibung zum Schatz im Lehrstück «Vektoren» zu folgen.

Das Ziel ist, bis im Herbst 2022 die erarbeiteten Lehrstücke in eine präsentierbare Form zu bringen und anderen interessierten Lehrpersonen zugänglich zu machen. Gleichzeitig sind im laufenden Schuljahr bereits weitere Lehrkunst-Novizen in die Gruppe eingetreten. Für sie wird das Projekt «Lehrstücke am Alpenquai» über 2022 hinaus weiter fortgeführt und erfährt hoffentlich weiteren Zulauf durch neugierige Lehrpersonen. Die Kollegiale Lehrkunstwerkstatt könnte somit tatsächlich zu einem kontinuierlichen Schulentwicklungsprojekt der KSA werden.


"Es ist genau diese Art von Unterricht, von der ich mir erhoffe, den jungen Menschen in ihrem Drang nach sinnhaftem Ergründen etwas gerechter zu werden."

Amanda Bagdhassarians, Deutschlehrerin und

seit 2020 Mitglied der Lehrkunstwerkstatt


Die Reise durch das Lehrstück von Katherine White geht weiter: Sie beschreibt uns, wie sie zusammen mit der Klasse dem Rätsel der Paradoxien bei Oscar Wilde auf die Spur geht und dabei herausfindet, dass dies ein Phänomen ist, das alle betrifft: Unser aller Leben ist voller Widersprüche. 

 

So ertappten sich beispielsweise manche Schülerinnen und Schüler dabei, an einer Klimademo teilgenommen, tags darauf jedoch billige und umweltschädlich hergestellte Mode gekauft zu haben. Im Unterricht kann man mit einem solchen beliebigen Beispiel den Gedanken vertiefen, was ein Paradoxon für Wilde zu seinen Lebenszeiten war und wie er damit die herrschenden Gesellschaftsnormen und -werte hinterfragte und blossstellte. Das ist ein günstiger Ausgangspunkt, um mit den Schülerinnen und Schülern einen Transfer auf die heutige Gesellschaft mittels eines Paradoxons zu schaffen. Was Oscar Wilde anspricht, ist also tatsächlich ein Menschheitsthema. Katherine White diskutiert anschliessend die Baustellen ihres Lehrstück-Sprösslings und zeigt den Workshop-Teilnehmern positive und negative Rückmeldungen der Lernenden.  

 

Und nun passiert, was die Lehrkunstwerkstatt so wertvoll macht: Es entsteht eine lebhafte und konstruktive Diskussion über Oscar Wilde und seine Paradoxien. Fachamateure und Fachexperten beschreiben ihre Eindrücke, wägen verschiedene Varianten des Unterrichtsgeschehens ab und tauschen sich letztlich über die Wirkung des Lehrstücks bei den Lernenden aus, die über die Schule hinausgehen könnte. Ein echter Bildungsdiskurs!

 

Auch Katherine White geht mit dem guten Gefühl aus dem Workshop heraus, nun über Ansätze zu verfügen, mit denen sie ihr Lehrstück weiterentwickeln und zu einem echten Diamanten polieren kann. Wir sind richtig gespannt auf die Fortsetzung.

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