Interview: Vera Bergen
Geflüchtete Kinder stehen vor enormen Herausforderungen: Der Verlust von Familie, Freunden und ihrem vertrauten Umfeld, das Erleben von Gewalt und das Ankommen in einer neuen Kultur mit Sprachbarrieren. Diese Erfahrungen hinterlassen tiefe Spuren – Sehnsucht, Sorgen und Ungewissheit können die jungen Geflüchteten belasten. Hier setzt das Projekt «Geschichtenoase» an und schafft einen Ort der sprachlichen und emotionalen Geborgenheit. Mitinitiantin und Co-Projektleiterin der Geschichtenoase ist Dr. Olena Marina. 2022 flüchtete sie mit ihrem Sohn aus dem ukrainischen Charkiw nach Luzern. Sie nimmt uns mit in ein Stück Heimat weit weg von Zuhause.
Für eilige Leserinnen und Leser:
- Die ukrainische Sprachwissenschaftlerin Dr. Olena Marina flüchtete 2022 mit ihrem Sohn und ihrer Mutter aus der Ukraine in die Schweiz.
- An der Pädagogischen Hochschule PH Luzern kann sie ihre Forschungsarbeit aus der Ukraine weiterführen.
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Zusammen mit ihrer Kollegin Mirella Walker initiierte sie hier neben ihrer Forschungsarbeit das Programm «Geschichtenoase» für geflüchtete Kinder, das in Kooperation mit den Volksschulen der Stadt Luzern (Lukas Keiser) und mit Unterstützung der Albert Koechlin Stiftung sowie der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern (DVS) realisiert werden konnte.
- Bei der Geschichtenoase können geflüchtete Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren einmal pro Woche während 90 Minuten Geschichten hören, sich in ihrer Muttersprache unterhalten und über ihre Erfahrungen sprechen.
- Die Geschichtenoase soll die psychische Gesundheit geflüchteter Kinder fördern und ihnen Mut für die Zukunft geben. Ausserdem soll das Projekt Freude an Geschichten und am Lesen wecken, Freundschaften fördern und den Kindern zeigen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind.
Dr. Olena Marina, nach dem Angriff Russlands sind Sie mit Ihrem Sohn und Ihrer Mutter aus dem ukrainischen Charkiw nach Luzern geflohen und haben die Geschichtenoase ins Leben gerufen. Warum?
Als Mütter und Lehrpersonen war es mir und meiner Kollegin, Mirella Walker, ein grosses Anliegen, den geflüchteten Kindern einen sicheren Ort zu bieten, wo sie zur Ruhe kommen, ihre Herkunftssprache sprechen und Deutsch lernen können, ohne Angst haben zu müssen, einen Fehler zu machen. Müde Reisende brauchen eine Oase, um sich auszuruhen, Kraft zu schöpfen und sich gegenseitig von ihren Abenteuern in der Wüste zu erzählen. Genau das bietet die Geschichtenoase. Nur nicht irgendwo weit weg in einer Wüste, sondern mitten in der Schweiz in Luzern, zwischen grünen Wiesen und blauen Seen. Da gibt es Zelte in zarten Farben, viel Grün, leise Musik, Geschichten und mittendrin die Kinder. Die Geschichtenoase schafft ein Märchen, das uns allen fehlt. Da, wie in der Oase in der Wüste, finden die Kinder Ruhe, Unterstützung und Zuversicht. Da ermutigen wir die Kinder und zeigen ihnen, dass immer jemand für sie da ist. Indem wir versuchen, die psychischen und sozialen Ressourcen dieser Kinder zu stärken, möchten wir einen Beitrag zu einer möglichst günstigen persönlichen, schulischen und sozialen Entwicklung dieser Kinder leisten.
«Ich öffne den Vorhang des Zelts, um einzutreten, und es ist so cool da. Sofort ist es gemütlich und komfortabel».
Kind (10 Jahre) zur Geschichtenoase
Wie würden Sie das Umfeld und die Atmosphäre in der Geschichtenoase beschreiben, insbesondere in Bezug auf die Sicherheit und den Raum für Entspannung?
Wir haben einen hellen, freundlichen Raum mit Zelten, Teppichen, Kissen und Lichterketten so eingerichtet, dass er einladend und gemütlich wirkt und Rückzugsmöglichkeiten für einzelne Kinder und kleine Gruppen bietet. Wir legen besonderen Wert auf die Gestaltung des Raums, einerseits, weil geflüchtete Kinder Erfahrungen mit bedrohlichen und unsicheren Räumen gemacht haben, und andererseits, weil Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder wichtig sind, um zur Ruhe zu kommen. Eine Lehrperson, welche die Kinder in der Geschichtenoase betreut, bringt es auf den Punkt: «Die Kinder sind von ihren Freunden und Verwandten getrennt. Einige haben niemanden, mit dem sie sich unterhalten können. Deutsch sprechen und verstehen sie schlecht. In der Geschichtenoase können die Kinder in ihrer Muttersprache sprechen und dank den Geschichten, die wir lesen, lernen sie keine Angst zu haben und ihre Emotionen zu teilen. Sie erleben die Situationen mit den Helden und Heldinnen aus den Büchern und erkennen, dass es immer eine Lösung gibt. Die Geschichtenoase ist ein Ort, wo die Kinder Freunde und Freundinnen finden können. Das Angebot ist für die Kinder aus der Ukraine sehr nützlich und wichtig.»
Infobox: Geschichtenoase
- Einmal pro Woche bietet das ausserschulische Angebot «Geschichtenoase», geflüchteten Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren während eineinhalb Stunden einen sicheren Rahmen. Sie können in entspannter Atmosphäre zur Ruhe kommen, in Geschichten eintauchen und über gemachte Erfahrungen sprechen.
- Die Geschichtenoase soll die psychischen Ressourcen geflüchteter Kinder stärken und sie ermutigen, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Weiter soll das Projekt auch dazu beitragen, dass die Kinder Freude an Geschichten und am Lesen entwickeln, Freundschaften knüpfen und merken, dass sie mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen nicht allein sind.
- Die Gruppen werden von drei Betreuungspersonen geleitet, darunter mindestens eine ausgebildete Lehrperson und Studierende der Pädagogischen Hochschule Luzern.
- Die Realisierung des Projekts wird von der der Pädagogischen Hochschule PH Luzern, der Volksschule der Stadt Luzern, der Dienststelle Volksschulbildung DVS, der Albert Koechlin Stiftung und vom Verein Prostir unterstützt.
Inwiefern sehen Sie, dass die Geschichtenoase Kindern hilft, sich dort wohl, sicher und verstanden zu fühlen?
Die Frage beantworte ich gerne mit einem Zitat von einem zehn Jahre alten Kind, das die Geschichtenoase regelmässig besucht:
«Als ich das erste Mal in der Geschichtenoase war, gab es eine Geschichte über drei Freunde: Drei Freunde sind am See spazieren gegangen. Ein Junge hatte ein Tuch, um sich warm zu halten, die anderen zwei hatten keines. Ihnen war kalt und sie haben darum gebeten, das Tuch zu teilen. Aber der Junge hat das Tuch nicht geteilt und gesagt: «Ihr müsst selber ein Tuch haben». Später, als die Kinder Glacé für sich gekauft haben, fiel die Glacé-Kugel des Jungens mit dem Tuch zu Boden und seine zwei Freude haben ihr Eis mit ihm geteilt. Der Freund war erstaunt und fragte: «Ah, ihr sagt mir nichts?» Die anderen beiden antworteten: «Nein, man muss teilen, du bist unser Freund». Ich mag es, die Geschichten zu hören, ich mag es dort zu reden, zu malen. Mir gefallen die Zelte, Matten, gemütlichen Lichterketten, ich kann mich verstecken und ein Buch lesen oder malen. Ich öffne den Vorhang um einzutreten, und es ist so cool da. Sofort ist es gemütlich und komfortabel. Und da ist eine Kugel aus Lichterketten».
«In der Geschichtenoase können die Kinder in ihrer Muttersprache sprechen und dank den Geschichten, die wir lesen, lernen sie, keine Angst zu haben und ihre Emotionen zu teilen».
Lehrperson der Geschichtenoase
Welche Rolle spielt die Betreuung und Anleitung durch die Lehrpersonen und Studierende der PH Luzern?
Für mich ist es spannend zu sehen, wie Kinder und Studierende der Pädagogischen Hochschule Luzern voneinander lernen. Für die Kinder sind PH-Studierende wie Freundinnen und Freunde, mit denen sie sprechen und Gefühle teilen können. Gleichzeitig lernen PH-Studierende mit Diversität umzugehen. Die Geschichtenoase bietet Studierenden die Gelegenheit, mit Kindern mit Fluchterfahrung zu arbeiten und zu sehen, wie sich diese Kinder fühlen und wie sie sie unterstützen können. Uns ist es wichtig, dass die Lehrpersonen und PH-Studierenden die Kinder mit Fluchterfahrung auch ausserhalb des Schulzimmers beobachten. Zudem lernen die Studierenden viel über die unterschiedlichen Aspekte des Erlernens von Sprachen. Auch in Übereinstimmung mit dem Lehrplan 21.
Auch Ihr knapp 10-jähriger Sohn ist regelmässig bei der Geschichtenoase dabei. Welchen Einfluss hat seine Teilnahme an der Geschichtenoase auf das Leseverhalten und den Deutschlernprozess Ihres Sohnes?
Als mein Sohn das erste Mal die Geschichtenoase besucht hatte, war er begeistert. Er hat mich gefragt, ob er zu Hause auch ein solches Zelt haben könne. Das war für mich ein gutes Zeichen. Von anderen Kindern haben wir erfahren, dass sie den Ort so schön fanden, dass sie die Geschichtenoase daheim nachgespielt haben. In diesem Projekt haben wir unser Vorgehen vor allem an die Bedürfnisse der Kinder angepasst. In der Geschichtenoase haben wir unterschiedliche Bücher. Vor dem Krieg war die Frage von Zugehörigkeit, zur Ruhe zu kommen usw. nie ein Thema in Büchern und auch nicht in der Familie bei uns. Ich freue mich, dass mein Sohn erfahren hat, dass Bücher Erholung, Zuversicht, Trost und Freude bringen können. Bücher helfen ihm zu verstehen, wie unterschiedliche Charaktere in den Büchern ähnliche Herausforderungen haben können und wie man den Weg aus schwierigen Situationen finden kann. Dafür sind unsere Geschichten und Lehrpersonen da.
Mein Sohn besucht die Geschichtenoase nach wie vor sehr gerne – es ist für ihn ein Ort, an dem er sich sehr wohlfühlt. Dort trifft er seine Freundinnen und Freunde und Bekannten, spricht seine Herkunftssprache, mag den Austausch mit tollen Studierenden und Lehrpersonen. Er zeigt mehr Interesse an Büchern und am Lesen und erzählt, was besprochen wurde.
«Müde Reisende brauchen eine Oase, um sich auszuruhen, Kraft zu schöpfen und sich gegenseitig von ihren Abenteuern in der Wüste zu erzählen. Genau das bietet die Geschichtenoase».
Olena Marina, Mitinitiantin und Co-Leiterin der Geschichtenoase
Inwiefern hat Ihnen die Geschichtenoase geholfen, sich in der Schweiz einzuleben und selber zur Ruhe zu kommen?
Mir hat das Projekt geholfen, die individuellen Ressourcen, aber auch die Bedürfnisse der Kinder mit Fluchterfahrungen besser kennenzulernen. Ich habe zum Beispiel erkannt, dass das Angebot auch lange Zeit nach der Fluchterfahrung noch wichtig ist. Die Kinder kommen teilweise von weit her, weil sie seit ihrer Ankunft in der Schweiz von der Stadt aufs Land gezogen sind. Sie brauchen einen Ort, wo sie ihre Sorgen und Gefühle aussprechen und teilen können und um sich mit Freundinnen und Kollegen zu treffen. Eltern erzählen, dass die Geschichten ihnen Ideen und Wertschätzung entgegenbringen. Die teilnehmenden Kinder mögen die Atmosphäre in der Geschichtenoase. Zudem schätzen sie es, sich mit Geschichten in ihrer Herkunftssprache zu beschäftigen. Ab Juni 2024 bieten wir die Geschichtenoase auch in Zusammenarbeit mit dem Sentitreff am PH-Standort Sentimatt an. Kinder jeder Herkunft sind herzlich eingeladen, in den Sentitreff zu kommen und Geschichten zu erleben.
Dr. Olena Marina
- Dr. Olena Marina (*1983) flüchtete nach dem Angriff Russlands zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Sohn aus der ukrainischen Stadt Charkiw im Osten der Ukraine. Ihre Flucht führte die drei über die zentralen und westlichen Teile der Ukraine nach Kosice in der Slowakei, wo es in vielen unterschiedlich langen Etappen weiterging bis in die Schweiz. Seit dem 27.03.2022 sind sie in Luzern.
- Zu diesem Zeitpunkt hat die Sprachwissenschaftlerin Olena Marina bereits eine Unterkunft und Arbeit in Luzern gefunden. Sie wandte sich an «Scholars at Risk», eine Organisation, die gefährdete Hochschulangehörige unterstützt und zu der auch die PH Luzern gehört.
- Durch die Vermittlung von Prof. Dr. Stefanie Rinaldi und Prof. Dr. Dorothee Brovelli (Prorektorin des Leistungsbereichs Forschung und Entwicklung an der PH Luzern) sowie die Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF kann Olena Marina, Associate Professor an der H.S. Skovoroda Kharkiv National Pedagogical University, ihr Forschungsprojekt «Identity Construction in the dramatic discourse of the English Restoration: a Cognitive-pragmatic perspective» fortsetzen.
- Sie ist sie Mitinitiantin und Co-Leiterin der Geschichtenoase am Institut für Diversität und inklusive Bildung (IDB) der PH Luzern.
- Neben ihrer Forschungsarbeit und der Geschichtenoase gibt Olena Marina Englisch-Sprachkurse sowie den Micro-Kurs «Schulsystem und Sprache der Ukraine» für Lehrpersonen. Wer sich dafür interessiert, kann gerne mit ihr Kontakt aufnehmen.
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