Text: Vera Bergen / Vorschaubild: Sanna Schär / Mara Truog
Zeitreisen gehören eigentlich in die Abteilung Science Fiction. Aber Projekte wie «Zeitmaschine bauen» lassen zumindest für Sekundarschülerinnen und –schüler das 20. Jahrhundert wieder auferstehen. Dank Zeitzeugen-Interviews und einer speziellen App erlebten vor Kurzem Schulklassen aus Sursee und Willisau eindrückliche Geschichtslektionen – quasi aus erster Hand und mit regionalen O-Tönen.
Was haben Werbungen der Schweizer Unterwäschemarke Calida, der Froschkönig und Frauenfussball miteinander zu tun? Die richtige Antwort ist Zeitmaschine.TV. Bei diesem Projekt des gleichnamigen Vereins, tauchen Schülerinnen und Schüler der ersten bis dritten Sekundarklasse dank Tablets und Smartphone, der App «Z-moviemaker» sowie anhand der Erinnerungen von Zeitzeugen tief in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Aus den Gesprächen – aufgezeichnet als Audiospur – sowie Bildern aus den Fotoalben der Interviewpartner und –partnerinnen entstehen am Schluss Kurzfilme – ein kurzer Clip konservierter Geschichte.
Kopfvoran in die Vergangenheit
«So wollen wir Generationen miteinander verbinden», sagt Christian Lüthi, Geschäftsführer und Gründer des gemeinnützigen Vereins Zeitmaschine.TV. Er findet es bedauerlich, wenn das Wissen unserer Gesellschaft unter den Generationen nicht mehr weitergegeben wird. Aus diesem Grund setzen er und seine Vereinskollegen sich seit 2008 für dieses Generationenprojekt ein. Seitdem hat der Verein schweizweit und sogar über die Landesgrenzen hinaus – von Bern bis Berlin - mithilfe der aktiven Mitarbeit der Lernenden Geschichte in Kurzclips konserviert. Auf www.zeitmaschine.tv finden sich aktuell rund tausend Oral History Clips. Die ältesten Erinnerungen stammen unter anderem vom Theodor Schmid aus Entlebuch mit Jahrgang 1917 sowie weiteren Zeitzeugen, die gegen Ende des 1. Weltkriegs geboren wurden. Sie erzählen über «säubergmachti Schihosä», dass sie «glehrt hend uf dZähnd zbissä» oder wie sie «jedes Wucheänd si go tanzä».
Auf Estrichen und in Brockenhäusern
In den vergangenen Wochen war zeitmaschine.tv – auch dank der finanziellen Unterstützung von Schukulu – Schule & Kultur im Kanton Luzern - im Willisauer Sekundarschulhaus Schlossfeld sowie im Schulhaus Alt St. Georg in Sursee zu Gast. Wie immer beim Projekt «Zeitmaschine bauen» werden die Jugendlichen - bevor sie selbst in das 20. Jahrhundert eintauchen - auf die bevorstehenden Stunden eingestimmt. Passend zum Thema finden diese Einstimmungen (inklusive Einführung in die App) jeweils in einem Brockenhaus, Museum oder, wie im Fall des Schulhauses Alt St. Georg, im schuleigenen Estrich statt. Zwischen ausgestopften Tieren, alten Bravo-Heften und ausgedienten Hellraumprojektoren beginnt das Kopfkino der Lernenden jeweils schnell zu arbeiten.
Die Vielfalt der Geschichte
Danach geht es für die Schülerinnen und Schüler – jeweils in Zweierteams – auf Interviewpartner- und Themen-Suche. «Die Möglichkeiten sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes unermesslich, was die Lernenden in Willisau auch vor Herausforderungen stellte. «Ich fand, der Auftrag war zu Beginn zu wenig eingeschränkt», sagt etwa die Willisauer Schülerin Alicia Schwegler. «Ich wusste nicht genau, wonach man suchen soll». Vielleicht liegt gerade auch darin die Kraft des Projekts. Neben Medien- und Methodenkompetenz durch Recherche und Multimedia lernen die Schüler und Schülerinnen auch narrative Kompetenzen bei Interview, Schnitt und Verfilmung. Sie erproben einen spielerischen Umgang mit historischen Quellen und schärfen ihre Sozialkompetenz durch Begegnungen mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen und in der Teamarbeit. Wohl auch deswegen haben der Projektleiter Christian Lüthi und der Willisauer Lehrer Samuel Koch den Lernenden thematisch kaum Grenzen gesetzt. «Die Zeitmaschine befasste sich mit dem Standort Willisau, bei der Wahl der Themen und Interviewpartner und -partnerinnen waren die Lernenden frei», so Samuel Koch.
«Man kann viel aus Geschichte lernen»
Alicia Schwegler und ihre Teamkollegin befragen «ihre» Zeitzeugin zum Aufwachsen in einer Grossfamilie. «Ich habe bemerkt, dass viele Lernende kaum oder nur selten mit «älteren» Menschen sprechen, sagt Samuel Koch. «Sie waren teilweise sehr überrascht von den Erzählungen der Zeitzeugen», so der Lehrer weiter. Eine andere Gruppe in Willisau tauchte in das Thema «Frauenfussball» ein. Wobei es zuerst etwas schwierig war, eine passende, über 60-jährige Interviewperson zu finden. «Wir hätten gerne eine Nachbarin befragt. Diese hatte jedoch kein Interesse. Dank Christian Lüthi haben wir dann doch noch jemand gefunden», erklärt Greta Heinemann. Vielleicht auch deswegen war die Schülerin beeindruckt, wie viel Improvisation es für die Umsetzung eines Kurzclips braucht.
Ihr Fazit: «Man kann viel aus Geschichte lernen». Sekundarlehrer Samuel Koch ergänzt: «Die Lernenden merken, dass man Geschichte nicht nur im Internet oder in Schulbüchern lernen kann, sondern auch durch Gespräche mit Menschen. Diese Erzählkultur sehe ich in vielen Bereichen als grosse Chance, gerade auch für lernschwache Schülerinnen und Schüler».
Der Kreis schliesst sich
Zeitmaschine.TV ist nicht nur an Schulen, sondern auch in Altersinstitutionen tätig. Die Oral History Clips, welche die Schülerinnen und Schüler seit Jahren produzieren, werden am Ende der Projektzeit nicht nur den Zeitzeuginnen und Eltern gezeigt, sondern dienen bei Animationen in Altersheimen als Möglichkeit, die Erinnerungen der Bewohnenden an vergangene Zeiten- zum Beispiel an den Besuch des Zirkus Froschkönig, an die Arbeit als Marketing-Chef beim Unterwäsche-Hersteller Calida oder als erste Frau im Männer-Fussballteam - zu wecken und damit auch lebendig zu halten. Die Schulprojekte können auch mit Altersheimen oder Museen als weiteren Partnern kombiniert werden. Dabei fällt die Suche nach Zeitzeugen und Zeitzeuginnen für die Lernenden weg, dafür lernen diese - neben Brocki und den Wohnungen der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen - einen weiteren ausserschulischen Lernort kennen.
«schuku spezial» und Zeitmaschine.TV
Das Programm «schuku spezial» unterstützt Luzerner Schulen, die das Projekt «Zeitmaschine bauen» mit dem Verein Zeitmaschine.TV umsetzen wollen. Die Schule beteiligt sich mit 500 Franken an den Gesamtkosten von 6'000 Franken. Schukulu bezahlt 5000.-, die restlichen 500 Franken verrechnet der Verein Zeitmaschine.TV als Eigenbetrag.
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Elsbeth Schneider (Montag, 08 April 2024 09:21)
Was für eine schöne Idee. Nicht vieles war früher besser, aber meine Tochter mit Legasthenie hatte zu ihrer Schulzeit noch eine richtige Therapie bei einer ausgebildeten Therapeutin. Das gab es damals auch für Kinder, die nicht Rechnen konnten. Für mein Grosskind, das Mühe mit Rechnen hat, gibt es diese Hilfe nicht mehr. Dem geht es jetzt so richtig schlecht und niemand weiss noch wie helfen. Sie hätten nur einen Halbtag in der PH darüber geredet, sagte die zuständige Lehrerin für Unterstützung. Warum gibt es solche Rückschritte frage ich mich. Denen würde ich gerne was erzählen.
Paul Waser (Donnerstag, 18 April 2024 22:20)
Genau, Frau Schneider, eine Zeitlang gab es noch Leute, die sich für die Kinder einsetzten. Aber dann ist alles zusammengespart worden. Und jetzt sollte ein Warnung an der "Zeitmaschine" Schule stehen: "Achtung. Sie reisen jetzt ins 19. Jahrhundert." Aber die Schule warnt nicht, sondern katapultiert einfach dorthin. Das macht mir Kummer.