Interview: Vera Bergen
Vorschaubild: Pexels / Andrea Piacquadio
Am 22. Mai 2024 findet zum siebten Mal der Schweizer Vorlesetag statt. Tausende von Vorleserinnen und Vorleser werden an diesem Tag an Schulen, in Bibliotheken, Museen, zu Hause und an vielen weiteren Orten vorlesen, um ein Zeichen für die Wichtigkeit des Vorlesens zu setzen. Sarah Eggel vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien erklärt, warum Vorlesen für Kinder und Jugendliche so wichtig ist, welche Rolle Schulen und Eltern bei der Förderung des Vorlesens und Lesens spielen und gibt Tipps, was beim Vorlesen beachtet werden sollte.
Für eilige Leserinnen und Leser:
- Regelmässiges Vorlesen fördert von klein auf die Beziehung zu den Bezugspersonen, unterstützt die sprachliche Entwicklung, erweitert den Wortschatz und schafft eine positive Einstellung zum Lesen. Es unterstützt zudem den schulischen Erfolg und motiviert zum weiteren Lesen.
- Eltern und Schulen spielen eine entscheidende Rolle bei der Förderung des Lesens. Schulen können regelmässige Vorlesezeiten integrieren, um Kindern die Freude an der Literatur zu vermitteln und das Lesen als Gewohnheit zu etablieren.
- Am 22. Mai findet der Schweizer Vorlesetag 2024 statt. Dieses Jahr liegt der Fokus auf dem «generationenverbindenden Vorlesen», um das gemeinsame Erlebnis des Vorlesens über Generationen hinweg zu betonen. Es finden in der ganzen Schweiz Vorleseveranstaltungen statt.
Sarah Eggel, die Schweiz steht kurz vor dem siebten Vorlesetag. Warum ist denn regelmässiges Vorlesen wichtig für Kinder und Jugendliche?
Kinder, die von klein auf regelmässig mit Geschichten, Reimen, Versen und Liedern in Kontakt kommen, erleben wichtige Momente der Zweisamkeit mit ihren Bezugspersonen, werden durch das Vorlesen in ihrer mündlichen Sprachentwicklung gefördert, erfahren eine Erweiterung ihres Wortschatzes und erhalten die Grundlage für eine motivierte Lesesozialisation.
Verschiedene Studien, welche die Auswirkungen des Vorlesens untersuchen, zeigen, dass Kinder, denen regelmässig vorgelesen wird, eine positive Grundeinstellung zum Lesen entwickeln. Zudem fällt Ihnen das Lesenlernen leichter und sie haben später im Durchschnitt bessere Schulnoten als Gleichaltrige ohne Vorleseerfahrung. Mit dem Eintritt in die Schule und dem Schrifterwerbsprozess spielen Vorlesegeschichten weiterhin eine wichtige Rolle: Sie halten die Neugier auf Geschichten wach und bilden eine Brücke zum Selberlesen.
Sie haben es erwähnt: Regelmässiges Vorlesen beeinflusst das Sprachverständnis und die sprachliche Entwicklung von Kindern. Warum?
Beim Vorlesen erwerben Kinder auf spielerische Art wichtige Fähigkeiten, die für das spätere Lesen und Verstehen von Texten wichtig sind: Sie nehmen unbewusst Erzähl- und Sprachmuster wahr, hören, wie Sätze gebildet werden, und werden mit schriftsprachlichen Ausdrücken vertraut. Regelmässiges Vorlesen fördert also die Sprachkompetenz von Kindern. Dies zeigen auch verschiedene Studien: Kinder und Jugendliche, denen regelmässig vorgelesen wird, lernen besser Lesen und Schreiben.
Sieben Vorlesetipps vom SIKJM
Nehmen Sie sich Zeit und Ruhe
Vorlesen schafft gemeinsame Zeit und Nähe. Sorgen Sie für eine entspannte Atmosphäre zu einem passenden Zeitpunkt, wie vor dem Schlafengehen oder nach dem Mittagessen. Wählen Sie einen gemütlichen Platz und meiden Sie währenddessen digitale Ablenkungen wie Handy und Fernseher.
Wählen Sie die Bücher gemeinsam mit Ihrem Kind aus
Lesen Sie Bücher, die Ihnen und Ihrem Kind Spass machen. Lassen Sie Ihr Kind das Buch selbst wählen, auch wenn es oft dieselbe Geschichte hören möchte. Bei mehreren Kindern sollte jedes
abwechselnd ein Buch aussuchen dürfen.
Lesen Sie lebendig vor
Sie müssen kein Profi sein, um lebendig vorzulesen. Sprechen Sie laut und deutlich, variieren Sie Ihre Stimme, und nutzen Sie Mimik und Gestik. Halten Sie Blickkontakt und machen Sie kleine Pausen, um Spannung zu erzeugen.
Beziehen Sie Ihr Kind ins Vorlesen ein
Vorlesen ist ein Dialog: Teilen Sie eine Geschichte mit Ihrem Kind und lassen Sie es Fragen stellen und Gedanken entwickeln. Regen Sie durch eigene Fragen Kreativität an, etwa indem Sie alternative Enden der Geschichte diskutieren. Nutzen Sie die Vorlesezeit für Gespräche über Themen, die Ihr Kind beschäftigen.
Lesen Sie in Ihrer eigenen Sprache vor
Lesen Sie Ihrem Kind in der Sprache vor, die Sie am besten beherrschen, sei es Hochdeutsch, Schweizerdeutsch oder eine andere. Sie können auch selbst erfundene Geschichten erzählen, was Spass macht und die Fantasie sowie Kreativität der Kinder fördert.
Lesen Sie regelmässig vor
Kinder mögen Rituale, daher lesen Sie regelmässig vor, idealerweise täglich. Die Dauer des Vorlesens können Sie mit Ihrem Kind festlegen. Schon fünf Minuten täglich fördern die Entwicklung des Kindes und stärken Ihre Beziehung durch gemeinsame Zeit und Aufmerksamkeit.
Hören Sie nicht mit Vorlesen auf
Vorlesen kennt keine Altersgrenze. Lesen Sie auch Kindern vor, die bereits selbst lesen können, und teilen Sie Geschichtenerlebnisse mit Jugendlichen und Erwachsenen, wie Ihrer Partnerin, Ihrem Bruder oder Ihren Freundinnen und Freunden.
Welche Auswirkungen hat das Vorlesen auf die Vorstellungskraft und Kreativität von Kindern?
Wer liest oder zuhört, macht sich ein Bild von der literarischen Welt, von den Figuren, Räumen, Handlungen und Stimmungen. Das Vorlesen fördert diese Imaginationsfähigkeit, insbesondere dann, wenn es lebendig geschieht, etwa durch die Betonung von Schlüsselstellen, durch Atempausen oder der Variation von Tempo- und Lautstärke. Wenn eine Textstelle beim Vorlesen durch die Variation von Tempo- und Lautstärke atmosphärisch ausgestaltet wird, steigert dies die Dynamik und Spannung des Gelesenen. Dadurch wird wiederum die Vorstellungskraft der Kinder erhöht.
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Welche Rolle spielen Schulen bei der Förderung des Vorlesens und Lesens bei Kindern und Jugendlichen?
Auch hier spielt die Freude eine wichtige Rolle. Gerade für Kinder, die Mühe haben beim Selbstlesen, ist das Vorlesen ein Geschenk. Sie müssen die anstrengende Arbeit des Entzifferns nicht leisten und können sich ganz auf die Inhalte der Geschichten konzentrieren. Damit verbunden ist die Erfahrung, dass es Spannendes, Lustiges, für sie individuell Relevantes zwischen zwei Buchdeckeln gibt. Das motiviert auch zum Selbstlesen. Deshalb bieten sich regelmässige Vorlesezeiten in der Schule von Anfang an und bis in den Zyklus 3 als Bestandteil der schulischen Leseförderung an.
Wie kann ich beim (m)einem Kind Lesefreude wecken?
Vorlesen ermöglicht Kindern erste Begegnungen mit der Welt der Literatur. Wenn wir Kindern vorlesen, zeigen wir ihnen, wie packend die literarische Welt sein kann und wir machen sie neugierig auf die vielen unbekannten Welten, die in den Büchern stecken. Vorlesen trägt zur Entstehung eines positiven Bezugs zum Lesen bei und fördert die Motivation am eigenen Lesen.
Wie können Eltern und Erziehungsberechtigte die Bedeutung des Lesens im Alltag ihrer Kinder fördern, auch ausserhalb des Vorlesetags?
Regelmässige Vorlesezeiten zuhause, unterwegs, draussen, drinnen, mal kurz, mal länger. Sie alle sind wertvolle Momente fürs Lesen selbst aber auch für die Beziehung von Eltern und Kindern. Wichtig ist, dass eine Familie einen eigenen Weg findet. Der Abend ist nicht zwingend der passende Moment für eine Familie. Und auch wichtig: Vorlesen in der Familiensprache geht auch.
Wie können Eltern und Erziehungsberechtigte das Vorlesen effektiv in den Alltag ihrer Kinder integrieren?
Wichtig ist die Regelmässigkeit des Vorlesens, denn bereits fünf Minuten Vorlesen pro Tag wirken positiv auf die Entwicklung von Kindern. Wie lange die Vorleserituale dauern, finden Eltern und Erziehungsberechtigte am besten gemeinsam mit dem Kind heraus. Das Vorlesen unterstützt auch die Beziehung zum Kind, indem ihm beim Vorlesen Zeit, Nähe und Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Inwiefern spielt es eine Rolle, wer den Kindern vorliest?
Unterschiedliche Menschen lesen unterschiedlich vor. Das zu erleben ist spannend! Mal ganz ruhig, mal fast theatralisch. Und wie genau Kinder zuhören, zeigt sich, wenn eine Geschichte, die Papa mehrmals vorgelesen hat, nun von Mama übernommen wird, und das Kind sich zu den Unterschieden äussert.
Eine Auswahl an Vorleseempfehlungen 2024 des SIKJM
- Ab 4 Jahren: Albertas Wunschladen von Martina Walther (ISBN 978-3-948743-03-1): In Albertas Brockenstube finden sich skurrile und wunderbare Dinge. Sie erfüllt jeden Wunsch der Menschen ihrer kleinen Stadt, von Papierblumen bis zu Wolkenkleidern. Auf den detailreichen, bunten Seiten sieht man, wie Kunden mit ihren Schätzen zufrieden fortgehen. Doch welchen tiefsten Wunsch hegt Alberta selbst?
- Ab 7 Jahren: Robin Ruhelos von Ruedi Ernst und Noëmi Sacher (Text) / Tanja Stephani (Illustration) (ISBN 978-3-906183-33-6): Robins Kopf ist oft voller Stimmen, die ihn leicht ablenken. An diesem Tag vergisst er sein Hausaufgabenblatt in der Schule, obwohl er seiner Mutter versprochen hatte, es zu erledigen. Nun muss er abends in die Schule zurückkehren. Dieses Buch schildert authentisch den Alltag und die Gefühlswelt eines Jungen mit ADHD.
- Ab 10 Jahren: Crazy Family. Die Hackebarts räumen ab! von Markus Orths mit Illustrationen von Horst Klein (ISBN 978-3-7432-1217-6):Die vier Hackebartschen Kinder sind ebenso ungewöhnlich wie ihre Namen. Die Mutter ist LKW-Fahrerin und Pianistin, der Vater stets überfordert, aber gefasst, und der Grossvater ein radikaler Klimaaktivist. Gemeinsam treten sie in einem Familien-Special von "Wer wird Millionär?" auf und begeistern das Publikum.
Was war die Inspiration hinter der Gründung des Schweizer Vorlesetags?
In Deutschland und weiteren europäischen Ländern werden seit einigen Jahren grossflächige Vorleseinitiativen durchgeführt. Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM lancierte im Jahr 2018 auch in der Schweiz einen nationalen Vorlesetag und zwar in Kooperation mit weiteren Partnerorganisationen. Mit dieser schweizweiten Initiative möchten wir die breite Öffentlichkeit wie auch die Politik darauf aufmerksam machen, dass Vorlesen für das Vermitteln von Basiskompetenzen und somit auch für Bildungschancen eine zentrale Rolle einnimmt.
Der Schweizer Vorlesetag ist zudem das Pendant im Frühling zur Schweizer Erzählnacht, einem nationalen Leseförderungsanlass, den wir seit über dreissig Jahren organisieren und der jeweils im November stattfindet. In den letzten sechs Jahren ist die Zahl der Vorlesenden und der Veranstalterinnen und Veranstalter am Schweizer Vorlesetag stetig gewachsen. In vielen Schulen, Kitas, Bibliotheken oder Buchhandlungen ist der Aktionstag ein fester Anlass in der Jahresplanung. Das freut uns sehr.
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Welche besonderen Veranstaltungen oder Aktivitäten sind für den diesjährigen Vorlesetag geplant?
Am Schweizer Vorlesetag wird an vielen verschiedenen Orten vorgelesen. Bibliotheken, Quartierzentren, Buchhandlungen, Verlage, Museen und weitere Veranstalter in der ganzen Schweiz führen öffentliche Vorleseveranstaltungen durch. Auch prominente Persönlichkeiten und Politiker und Politikerinnen lesen an diesem Tag Kindern und Jugendlichen vor. Der diesjährige Schweizer Vorlesetag hat das «generationenverbindende Vorlesen» als Schwerpunktthema. So finden sich unter den über 300 bisher angemeldeten öffentlichen Vorleseaktionen am 22. Mai auch viele generationenverbindende Veranstaltungen. Ob auch in Ihrer Region Vorlese-Events stattfinden, sehen Sie auf unserer Veranstaltungskarte.
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Wie können diejenigen, die nicht nur zuhören sondern auch vorlesen wollen, mitmachen?
Wer gern vorliest, ist dazu eingeladen, am Schweizer Vorlesetag Kindern oder Jugendlichen eine Geschichte vorzulesen: zu Hause, im Kindergarten, in einer Schulklasse, im Familienzentrum, in der Bibliothek oder an einem anderen Ort. Bis am 22. Mai können Veranstaltende, kulturelle Institutionen, Schulen, Privatpersonen und weitere Interessierte ihre Vorleseaktionen anmelden und mit etwas Glück eine von fünf Überraschungsboxen mit verschiedenen tollen Preisen gewinnen.
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